Es ist ein Statement für ein noch relativ junges Genre bei deutschen Kunstfestivals, das Unterhaltung und Anspruch, Akrobatik und Erzählung. Es ist ein Statement für den Neuen Zirkus. Die Ruhrfestspiele zeigen bereits seit den 1980er-Jahren zeitgenössischen Zirkus im Theaterzelt und beim Fringe-Festival. Unter der Intendanz von Olaf Kröck (seit 2019) wurde der Neue Zirkus als eigenständiges Genre etabliert und rückte weiter in den Fokus. In diesem Jahr wird das Festival nun zum ersten Mal mit einer Inszenierung aus dieser Sparte eröffnet – auf der großen Bühne.
Eingeladen ist die australische Kompanie Gravity & Other Myths, die für »The Pulse« mit dem gesamten Ensemble antritt: 24 Akrobat*innen, deren Körper sich türmen, durch die Luft und übereinander fliegen. Es ist die Lust am Risiko, die das Genre Neuer Zirkus auszeichnet. »Staunende Augen, stockenden Atem und klopfende Herzen«, verspricht auch das Programmbuch für »The Pulse«. Die Kompanie arbeitet mit regionalen Künstler*innen zusammen, in Recklinghausen mit dem Frauenkonzertchor der Chorakademie Dortmund. Mit den Artist*innen verschmelzen diese »zu einem Organismus, zu einem Puls«, kündigt Olaf Kröck an.
Ein musikalisches und akrobatisches Vergnügen – das soll die Inszenierung werden. Womit auch das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele getroffen wäre, zumindest ein Teil davon. Mit »Vergnügen und Verlust« ist die Festivalausgabe überschrieben. Für Kröck ist das Vergnügen, die ausgelassene Freude, eine urmenschliche Fähigkeit und als dionysischer Rausch die Wiege unserer abendländischen Kultur. Nicht weniger thematisiere das Theater inhaltlich den Verlust – den Verlust von Menschen, von Liebe, Wohlstand oder Macht. In aktuellen Zeiten der Krisen und Kriege, der mörderischen Terroranschläge und humanitären Katastrophen, der neofaschistischen Geheimtreffen und Bedrohungen der Demokratie könne die Kunst ein Ort der Hoffnung und Utopie sein.
Mit Haltung
Als politisches Festival haben sich die Ruhrfestspiele in der Tradition schon immer verstanden. Olaf Kröck bekennt sich in jedem Jahr wieder zu dieser Haltung. Ebenfalls am Eröffnungswochenende gibt es in Recklinghausen »As Far As Impossible« zu sehen, eine intime Arbeit, für die der portugiesische Regisseur Tiago Rodrigues Menschen interviewt hat, die in Krisengebiete gehen, nämlich Mitarbeitende weltweiter Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Rotes Kreuz. Kröck kündigt einen »bitteren« Abend an, manchmal auch schwer auszuhalten, aber nie hoffnungslos.
Politisch schon allein in der Besetzung ist die Inszenierung »DIBBUK – zwischen (zwei) Welten« der Kula Compagnie, die in Recklinghausen als Uraufführung gezeigt wird. Künstler*innen aus Afghanistan, Israel, Iran, Russland, Deutschland, Frankreich und Italien stehen dort gemeinsam auf der Bühne, um die volkstümliche, jüdische Liebesgeschichte des Dibbuk in einen zeitgenössischen, interreligiösen Kontext zu setzen. Die ambivalente Wahrnehmung der Institution Polizei ist Thema der Uraufführung – der Titel kündigt es schon an – »Hier spricht die Polizei«. Dafür hat das freie Theaterkollektiv werkgruppe2 Stimmen von Polizist*innen – auch aus Recklinghausen und dem weiteren Ruhrgebiet – gesammelt.
Insgesamt gibt es 220 Veranstaltungen mit über 620 Künstler*innen aus der ganzen Welt bei den diesjährigen Ruhrfestspielen, aus den Bereichen Schauspiel und Tanz, Literatur und Neuer Zirkus, Theater für junges Publikum, Musik und Kabarett. Darunter so ein Kleinod wie das Theatersolo »La Codista« über einen professionell in der Schlange wartenden Menschen oder ein extremer und mitreißender Tanzmarathon (»Mass Effect«) oder die Kunstausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen, in der diesmal der dänische Koch und Künstler Søren Aagaard das performative Potenzial von Essen und Kunst befragt.
Ruhrfestspiele Recklinghausen
1. Mai bis 8. Juni