Was für eine Idee: Zwei Bretter, je drei Meter lang, schnallt Reinhild Hoffmann sich auf den Rücken. So erzwingt sie eine ungewohnte Körperkontrolle, um neue Bewegungen zu erfinden. Dabei entwickelt die Pionierin großen Einfallsreichtum: »Die beiden Bretter konnte ich beispielsweise zu Kreuzformen verändern. Oder, wenn ich mich entsprechend bewegt habe, wurden Flügel daraus. Der Vorgang bekam Leichtigkeit. Wenn ich mich hingesetzt habe, wurden die Bretter zum Stuhl. Mich hat die Gesetzmäßigkeit des Materials interessiert«, erzählt die eigenwillige Künstlerin vor einiger Zeit im Gespräch mit kultur.west über die Entstehungsgeschichte ihrer Soloarbeiten Ende der 1970er Jahre. Neben »Bretter« ist unter diesen frühen Werken auch eines mit dem Titel »Sofa«: Hier fixiert sie die lange Schleppe ihres Abendkleids an jenem Sitzmöbel – und schafft sich so ihren eigenen Käfig. Jetzt freut sich die 78-jährige Autorität über den »Tanz-Oscar« für ihre Lebenswerk, dotiert mit 10.000 Euro.
»Für den Tanz in Deutschland war ihr künstlerisches Schaffen von überragender Bedeutung. Sie trug dazu bei, den Tanz als Gattung zu emanzipieren und in Kunst und Gesellschaft zu verankern«, so begründet die Jury des Deutschen Tanzpreises ihre Entscheidung für Reinhild Hoffmann. »Als Tänzerin, Choreografin und Regisseurin entwickelte sie ab den 1970er Jahren mit großer Erfindungskraft eine eigene choreografische Sprache von unverwechselbarer Bildfantasie.«
»Chaos und Grausamkeit« titelt die Süddeutsche Zeitung, als Hoffmann 1986 ihre erste Uraufführung »Machandel«, nach einem Grimm’schen Märchen, für das Schauspielhaus Bochum vorstellt. Nach höchst erfolgreichen Jahren am Theater Bremen war sie mit ihrem Ensemble ins Ruhrgebiet gezogen. Der Kritiker prangert eine »unschöne Materialschlacht« an, zudem fühlt er sich zeitweise erinnert an »eine schlechte Pina-Bausch-Anthologie«. Nicht wenige Zuschauer verließen damals das Theater. Kein gutes Omen. Hoffmanns Bochumer Zeit sollte künstlerisch nicht an die Bremer Ära heranreichen – an der Weser waren Meisterwerke wie »Könige und Königinnen«, »Callas«, »Föhn« oder »Dido und Aeneas« entstanden.
Ikonen des deutschen Tanztheaters
Gut zehn Jahre zuvor, 1973, war Pina Bausch mit ihren ersten Arbeiten am Theater Wuppertal beschimpft und beworfen worden. Übrigens unter der Intendanz von Arno Wüstenhöfer, der sie hartnäckig zu dem festen Engagement überredet und ihre Weltkarriere begründet hatte. Wüstenhöfer ist es auch gewesen, der Reinhild Hoffmann 1978 ans Bremer Theater holte. Er glaubte an die Verbindung von Sprechtheater und Tanz. Er sollte Recht behalten: Pina Bausch, Reinhild Hoffmann sowie Susanne Linke sind längst als Ikonen des deutschen Tanztheaters im Geiste des Folkwang-Urvaters Kurt Jooss in die Tanzgeschichte eingegangen. Alle drei haben einmal das Folkwang Tanzstudio in Essen geleitet, die Keimzelle des modernen Tanzes. Und nun sind sie auch alle Trägerinnen des Deutschen Tanzpreises.
Reinhild Hoffmann ist ein Flüchtlingskind, geboren 1943 im schlesischen Sorau, findet sie kurz vor Kriegsende mit ihrer Familie in Süddeutschland Zuflucht. Nach dem Studium in Essen unter der Leitung von Kurt Jooss hat Hoffmann ein erstes Engagement als Tänzerin für die Salzburger Festspiele, später glänzt sie in Bremen unter der Leitung des oft als »Berserker des Tanzes« bezeichneten Johann Kresnik. Es folgen erste choreografische Arbeiten mit einer eigenen Sprache. Der Aufstieg verläuft rasant, es gibt Preise und Stipendien, so auch für New York.
Dass die Radikalität vor allem von Reinhild Hoffmanns Frühwerk am Einfluss Kresniks liegt, darf vermutet werden. Anders als Pina Bausch, die sich vor allen Dingen dem bisweilen martialischen Verhältnis von Frauen und Männern widmet, interessiert Hoffmann sich dafür, die Sprache des menschlichen Körpers zu erforschen. Später wendet sie sich immer mehr dem Musiktheater zu. Seit 1995 ist die Grande Dame freiberuflich unterwegs. Für die Gala zur Preisverleihung kreiert sie eigens die Performance »Solange man unterwegs ist …« über ihre künstlerische Vergangenheit.
Marco Goecke, der fiebrige Minimalist unter den Choreografen, wird ausgezeichnet für »die Originalität und Unverwechselbarkeit« seines hochemotionalen, grandiosen Tanzvokabulars, so die Jury. Der Ballettdirektor und Chefchoreograf des Staatsballett Hannover steuert sein Solo »Tué« und das Duett »Midnight Raga« zur Gala bei, präsentiert von seinem Ensemble.
Christoph Winkler, der Dritte im Geehrten-Bunde, ist freischaffender Choreograf in Berlin. Er überzeugt die Jury mit seinem Spektrum unterschiedlichster Formate und Ansätze: »Kompromiss- und bedingungslos, reichen sie von politischen Themensetzungen im Spannungsfeld von Faschismus und Kapitalismuskritik bis zur Altersarmut, hin zu sehr persönlichen Fragestellungen.« Winkler zeigt in Essen sein Stück »Coming together«, getanzt von Künstler*innen aus den Niederlanden, Nigeria, Neuseeland und Deutschland. Darin erforschen sie das Potenzial des Körpers für Protest.
Geehrt wird außerdem der Verein Aktion Tanz für herausragende Entwicklungen im Tanz. Der im Rahmen des Förderprogramms Chance Tanz des Vereins Aktion Tanz entstandene Film »We Live in a Strange World – a dance film inspired by the speeches of Greta Thunberg« von Christin und Carola Schmidt wird als Beispiel für die Arbeit des Vereins präsentiert.
Gala zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises
Aalto-Theater Essen
15. Oktober