TEXT: INGO JUKNAT
»Play more videos!«, verlangte Justin Timberlake erbost vor drei Jahren im Fernsehen. Ziemlich kurios, denn er befand sich auf einer Veranstaltung, in der es um Videos ging – den MTV Music Awards. Und doch hatte Timberlake nicht Unrecht mit seiner Kritik. In den letzten Jahren hat sich MTV immer mehr zu einem »normalen« Fernsehsender gewandelt – mit Sitcoms, Zeichentrickfilmen, Reality TV und was noch so dazugehört. Musikvideos sind längst nicht mehr das Stammgeschäft des Senders. Das mag traurig sein; als Wirtschaftunternehmen passt sich MTV aber nur dem veränderten Markt an, der sinkenden Nachfrage nach verfilmten Musikstücken.
»I want my MTV«, forderten einst die Dire Straits. Doch wir leben nicht mehr im Jahr 1985. Gründe für den Bedeutungsverlust des Musikvideos (und damit auch von MTV) gibt es mehrere. Da sind zunächst die schwindenden Budgets der Plattenfirmen. Millionenteure Clips wie Michael Jacksons »Thriller« sind nicht mehr denkbar in Zeiten, in denen manche Labels schon Probleme mit der Stromrechnung haben. Hinzu kommt die gewandelte Rezeption. Musik wird nicht mehr über wenige TV-Kanäle verbreitet, sondern zielgruppengenau von Internet-Börsen wie MySpace oder last.fm.
Sind Musikvideos als Kunstform also tot? Ein Ort, an dem man das überprüfen kann, sind die Oberhausener Kurzfilmtage. Seit 1999 gibt es dort eine Kategorie für Musikvideos, den MuVi-Preis. Er wird ausschließlich an deutsche Produktionen vergeben. Das wirft im Jahr 2010 allerdings die Frage auf, an welche Pop-Videos aus unserem Land man sich überhaupt erinnert. Gibt es wirklich künstlerische Clips – abseits der JuliSilbermondPeterFox-Schiene?
Es gibt sie. Und wer sie sich anschaut, erfährt einiges über den Umgang mit einem Medium, das in der Krise steckt.
Zwölf Musikvideos sind nominiert. Was sie bei allen künstlerischen Unterschieden eint, ist das minimale Budget. Interessanterweise machen gleich mehrere Clips diesen Billigzwang zum Thema. So auch das Video »Lifeguide« der bayrischen Band Pappkameraden, eine Mischung aus 80er-Jahre-Aerobic und Teleshop-Persiflage. Die Ausstattung ist bewusst trashig, die im Shop angepriesenen »Lifestyle«-Produkte bestehen aus Pappe. Einen ähnlichen Weg geht der Clip zu Lena Stoehrfaktors Rap-Song »Die Seitenlehne«. Auch hier: Pappkulissen, diesmal ein Zug, durch den sich Marionetten im Augsburger-Puppenkiste-Look bewegen. Die Atmosphäre einer tristen S-Bahnfahrt um drei Uhr morgens ist trotz Miniaturbühnenbild gut eingefangen. Unterwegs sind Archetypen einer Nachtfahrt: die in sich zusammengesunkene Schnapsleiche, die Kapuzenpulli-Kids, der müde-genervte Schaffner, einsame aus-dem-Fenster-Starrer und Party-Heimkehrer, die sich von ihrem Abend irgendwie mehr versprochen hatten.
»Die Seitenlehne« fällt auch deswegen auf, weil es eines der wenigen Videos ist, dem eine Handlung zugrunde liegt. Die meisten anderen Beiträge zeigen abstrakte Bilderwelten. So auch »Rusty Nails« von Moderat, eine in Superzeitlupe gefilmte Explosion einer Steinsäule. Der Clip wirkt wie eine sterile Version der Explosionsszenen in Antonionis »Zabriskie Point« oder von Fatboy Slims Musikvideo »Gangster Trippin’«. Auch andere Clips zeigen, dass der Trend (vielleicht notgedrungen) weg vom Erzähl-Clip in Richtung Videokunst geht. Manche Wettbewerbsbeiträge, etwa »Opaque« von Hildur Gudnadóttir oder »Camel« von Flying Lotus, erinnern mehr an eine VJ-Performance als an ein klassisches Musikvideo.
Eine andere Möglichkeit, Geld zu sparen, ohne billig zu wirken, ist das Sampling bereits existierenden Filmmaterials. Diesen Weg gehen Malkoff Kowalski mit dem Video »Andere Leute«, das ausschließlich aus Szenen eines Klaus-Lemke-Films besteht. »HyBoLT« von Von Spar macht wiederum Anleihen bei der Teleshop-Ästhetik. Auch hier stammt die Bilderwelt vor allem aus den 80ern, der Goldenen Ära des Musikvideos. In dem Von-Spar-Video sehen wir auch experimentelle Musikinstrumente, Jets, 3D-Brillen und Vektorgrafiken – mit anderen Worten: vieles, was damals als state-of-the-art galt. In mancher Hinsicht ist der Clip eine Visualisierung von Neil Gaimans berühmter Aussage, nichts altere so schnell wie die Zukunft – Musikvideos inklusive.
Schaut man sich diese Kombination aus abstrakten Videos, Zeichentrick, gesampletem Bildmaterial, Puppenanimationen und Stopmotion-Tricks an, fällt auf, dass eine Komponente fast ganz ausgedient hat: der menschliche Darsteller. Eine der wenigen Ausnahmen unter den diesjährigen MuVi-Nominierten ist »Lightning Strikes« von Felix Kubin. Das Video zeigt eine Tanzperformance in einem verfallenen Haus, als hätte sich Klaus Nomi in einem David Fincher-Film verirrt. Auch Die Goldenen Zitronen lassen ihren Sänger Schorsch Kamerun als bärtigen Straßenprediger durch München laufen und (ziemlich erfolglos) Flugblätter verteilen.
Irgendwie bezeichnend, dass die dienstälteste Band im Wettbewerb ein Video mit Plot und »Aussage« eingereicht hat. Davon hätte man – bei aller Abstraktion im Wettbewerb – gerne mehr gesehen.
Oberhausener Kurzfilmtage, 29.4.–4.5., www.kurzfilmtage.de