Alle Jahre wieder rieseln Kinderstücke ins Programm der Theaterhäuser. Aber was ist sehenswert? Hier kommen unsere kultur.west-Tipps.
Verschwende deine Zeit!
In Mülheim wird die eindrückliche Inszenierung von »Momo« des Kollektiv Subbotnik wiederaufgenommen.
Wie wäre es, in einer Welt zu leben, in der Zeit keine Rolle spielt? Dann könnte man einfach so, wie Momo und ihre Freunde, die Wirtin Nina, der Dichter Gigi, der Straßenkehrer Beppo und der Friseur Fusi, zusammensitzen und essen, sich unterhalten und Musik machen. Es ist ein wahres Idyll, das sich diese Fünf geschaffen haben. Eine Welt ohne Druck, in der es kein Konkurrenzdenken und keinen Wunsch nach Selbstoptimierung gibt. Doch so bleibt es nicht. Als plötzlich ein Vertreter der »Zeitsparkasse« in ihrer Mitte auftaucht, holt die neoliberale Wirklichkeit das Mädchen Momo und die anderen schneller ein, als sie es selbst wahrhaben wollen. In der Bühnenadaption von Michael Endes Roman, die das freie Kollektiv subbotnik mit Maria Neumann erarbeitet hat, wirkt das ›100-jährige Mädchen‹ Momo tatsächlich, als sei es aus der Zeit gefallen. Maria Neumann spielt es als kritische Beobachterin, die nie ganz dazugehört. Selbst in den Momenten des Idylls ist noch eine Distanz zu spüren, die sie von den anderen trennt. Ihr unaufgeregtes, ohne große Gesten auskommendes Spiel wird zum Zentrum einer Inszenierung, die mit simpelsten Mitteln wie Overheadprojektionen und fantastischen Kostümen eine poetische Welt heraufbeschwört. Noch die größten Fragen nach dem Wesen und Wirken von Zeit stellt Maria Neumann mit einer Leichtigkeit, die auf spielerische Weise zum Philosophieren und Träumen anregen: von einem Leben ohne Zeitdruck. SAW
ab 8 Jahren, Karten gibt es noch für den 9., 10., 18. Dezember, Theater an der Ruhr, junges.theater-an-der-ruhr.de
Ronja mit den Barfußschuhen
Am Schauspiel Essen wird Astrid Lindgrens Räubertochter mit einer Showtreppe als Mattisburg auf die Bühne gebracht.
Die Mattisburg ist eine Art Akrobatik-Bühne mit bunten Lichterketten, Hauptdarstellerin Trixi Strobel sieht mit asymmetrischer Frisur, Barfußschuhen und Gesichtsbemalung aus wie junge Menschen aus dem linksalternativen Milieu sich heute auch im Alltag zeigen. Ansonsten ist bei Anne Spaeters Inszenierung von Astrid Lindgrens Kinderbuch »Ronja Räubertochter« alles am angestammten Platz. Es gibt eine lärmende Räuberbande, deren vorwiegend männliche Mitglieder aber keinen Hehl daraus machen, dass sie auch ein Herz und Gefühle haben. Die klassisch weibliche Rolle, sich um Seelen- und Körperhygiene zu kümmern, kommt trotzdem Räubermutter Lovis (Sabine Osthoff) zu, die in einer amüsanten Szene die Hemden und Westen der fliehenden Bande einsammelt – zum Frühjahrs-Waschtag. Es gibt den tiefen Abgrund, der die zwei Teile der Mattisburg trennt, sich aber mit einem kleinen Sprung überqueren lässt, und an dem sich die Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen Ronja und dem Sohn der gegnerischen Bande Birk abspielt. Und natürlich gibt es auf der Drehbühne von Fabian Lüdicke auch einen unheimlichen Wald mit gefährlichen Wilddruden und lustigen Rumpelwichten, die von den Live-Musikern sogar einen eigenen Song bekommen: Für den »Wieso-denn-Blues« gibt es Szenenapplaus. Wegen der unheimlichen Bedrohungen im Wald, dem andauernden Geschrei und der Kämpfe auf der Mattisburg ergibt die Altersempfehlung »6+« tatsächlich Sinn, weil jüngere Kinder häufiger mit der Angst zu tun bekämen. Ansonsten gibt es hier eine gelungene Variation der berühmten Verfilmung von 1984 zu bestaunen mit mitreißender Live-Musik in der Tradition der fahrenden Völker. MFK
ab 6 Jahren, 3. bis 6., 17. bis 20. und 26. Dezember, Schauspiel Essen, theater-essen.de
Mission Umarmung
Das Theater Paderborn zeigt eine spacig-lässige Fassung von »Peterchens Mondfahrt«.
John Williams’ Star Wars-Hymne »Main Title« gibt gleich zu Beginn den Ton an für diese Inszenierung: Spacig-lässig erzählen Paulina Neukampf und ihr Team im Theater Paderborn die Geschichte von Peterchens Mondfahrt in der modernisierten Textfassung von Inken Böhack und Jan Pröhl. Da werden erst mal alle überflüssigen Chens aus Gerdt von Bassewitz Klassikervorlage gestrichen – darauf bestehen Peter und auch James T. Sandmann. Denn welcher Science-Fiction-Held aus dem Weltall will schon mit dem süßen, pudelmützigen Sandmännchen verwechselt werden? Anneliese nennt sich jetzt Lizzy. Und sie ist die Mutigste auf ihrer »Mission Käferbein« mit Bruder Peter und Maikäfer Rufus Sumsemann. Im schwebenden Etagenbett macht sich das Trio auf die Suche nach dem sechsten Sumsemann-Bein auf dem Mond. Unterwegs treffen sie Raumschiffkapitän Sandmann und Assistent Scotty, bei denen es Sand-Kuchen und Sand-Wich in der Kantine gibt. Und Milchstraßen-Kontaktmann Cosmo, der mit ihnen zum Milch-Shake-Tanz die Schultern schüttelt, bevor er die Mondrakete startet. Blixa-Blitz und Schu-Sturm sehen wir als schrullige Nerds mit Glitzerhaaren in Video-Nahaufname. Mascha Bischoff hat ihnen allen fantasievoll-futuristische Kostüme verpasst, fremde Wesen ohne Geschlecht, mal gruselig-grollend, mal witzig-verspielt in dieser Live-Game-Theater-Mondmission. Der böse Mondmann ist hier ein hüpfender Dino mit schräg verzerrter Stimme. Sprechen kann der kaum noch nach jahrelanger Einsamkeit. Also wird die letzte Aufgabe der mutigen Drei zur Kampf-Kuschel-Choreografie – und die versöhnliche Lösung ist eine Umarmung. HEP
ab 6 Jahren, Karten gibt es noch für den 3. und 18. Dezember, theater-paderborn.de
Auf der Suche nach sich selbst
In Dortmund verlässt sich Regisseur Andreas Gruhn für »Alice im Wunderland« auf das Absurde.
»Langweilig, langweilig, laaaangweilig!« Bei dieser Eröffnung einer nöligen Alice gehen Kinder wie Eltern mit im Dortmunder Schauspielhaus. Nicht ganz so alltäglich ist das, was in Lewis Carrols‘ »Alice im Wunderland« daraus wird: Weil Alice keine Lust mehr hat zu lesen oder Karten zu spielen, folgt sie einem sprechenden weißen Kaninchen in seinen Bau und landet in einer wunderbaren Welt des Nonsens. Auch wenn am Anfang noch Teile der Handlung erklärt werden für das kleine Publikum, das den Klassiker noch nicht verinnerlicht hat, verlässt Regisseur Andreas Gruhn sich auf das Absurde und bleibt nah am Text. Unterstützt wird seine Inszenierung von bühnenfüllenden Videoprojektionen von Peter Kirschke, die Alice schwindelerregend fallen und schrumpfen wie wachsen lassen und später in nahezu psychedelische Welten entführen. Auf der Bühne steht das gesamte Ensemble des Kinder- und Jugendtheaters, das die Drei- bis Fünffachrollen gut bewältigt und allen einen eigenen, durchaus absonderlichen Charakter gibt. So glänzt Bianka Lammert als fürsorgliche, aber unscheinbare Schwester wie als exaltierte und herrische Königin gleichermaßen. Zwei Gäste ergänzen das Ensemble des Abends, Sar Adina Scheer spielt unter anderem das weiße Kaninchen und Malin Kemper als sympathische Alice bindet auch ungeplante Interventionen des eifrigen Publikums spontan ein. Auf der Suche nach dem Abenteuer verliert sich Alice immer mehr in Transformationen und ihrem auf den Kopf gestellten Wissen. Regisseur Gruhn möchte dies offenbar auch als ganz zeitgemäße Identitätssuche gelesen wissen und lässt Alice singen: »Bin ich noch Alice? Immer noch Alice?« VL
ab 6 Jahren, Karten gibt es noch für den 1., 4. bis 8., 12. bis 15., 18. bis 21., 25. und 26. Dezember, 9. bis 12. Januar, theaterdo.de
Weihnachtspullis statt Pirouetten
Wuppertal bringt den »Nussknacker« als Theaterstück für die ganze Familie auf die Bühne.
»Ausgerechnet am Weihnachtsabend läuft die Zeit besonders langsam. Minuten fühlen sich an wie eine halbe Ewigkeit«, so fasst Onkel Drosselmeier jenes altbekannte Phänomen zusammen. Seine Patenkinder Marie und Fritz können es denn auch kaum mehr erwarten. Die beiden haben ihre Weihnachtspullis schon einmal übergestreift. Bestrickt mit Elch und Tannenbaum fiebern sie nun der Bescherung entgegen – tobend auf einem Riesensofa, das schief die Bühne im Wuppertaler Opernhaus besetzt. Der »Nussknacker« steht auf dem Spielplan und mag auf magische Weise schon im Advent die Wartezeit verkürzen. Allerdings diesmal nicht mit Spitzenschuhen, Tutus und Pirouetten. Denn Wuppertal hat aus dem populären Ballett nach E.T.A. Hoffmanns Kindermärchen ein Theaterstück gemacht. Die Musik von Tschaikowski ist zum Glück geblieben. Man hört und sieht das Sinfonieorchester Wuppertal im Hintergrund live auf einer Drehbühne musizieren. Während Marie und ihr reimender Nussknacker – verfolgt von einer fiesen Mausekönigin – der müden Prinzessin Pirlipatt zur Hilfe eilen. Zu den heiteren Begleitern der kühnen Rettungsaktion zählen ein dicker Hase in Karo-Hose, ein frecher Aufziehaffe, eine Bonbontüte auf zwei Beinen und die Zuckerfee im Einhorn-Look. Verstärkt wird das Wuppertaler Ensemble diesmal durch Mitglieder des Inklusiven Schauspielstudios. Gemeinsam kann man die Mission zügig über die Bühne bringen. Weil die Wuppertaler Theaterfassung auf viele Details aus Hoffmanns Erzählung verzichtet, ist das Happy End schon nach rund einer Stunde perfekt. STST
4., 7., 11. bis 15., 20. bis 22. Dezember, schauspiel-wuppertal.de
Mädchen an die Macht
»Robin Hood« im Düsseldorfer Schauspielhaus
Es gendert in Sherwood Forest. Der fuchsschlaue Robin hat sich in eine rothaarige Füchsin (Sophie Stockinger) transformiert: Queen of the Wood, Powergirl und – von ihrer Band(e) unterstützte – Rockröhre im Partisanenlook, aber historisch echt mit Pfeil und Bogen. Das 200 Milliarden-Sondervermögen zur Wehrertüchtigung hat die englischen Rebellen gegen das Unrechtsregime nicht modern aufgerüstet, auch wenn die Zeitmaschine sie aus dem Mittelalter in die Gegenwart mit ihren sozialen Nöten katapultiert. Umverteilung ist das Motto, Hubertus zum Heil! Also kein argloses Märchenstück, sondern ein wenig Krisenreport, inszeniert von David Bösch, der als ausgewachsener Regie-Mann manchmal noch gern in die kurzen Hosen des romantischen Rotzjungen steigt. Das erklärt die leicht langatmigen (sich dehnend wie der 100-jährige Krieg) Handlungswindungen mit knalliger Gameshow, Mystery-Look, Animationsfilm, mehrfachen Duellen mit dem finsteren Schwarzen Ritter und Segeltörn ins Baguette-Land Frankreich, um den wahren König Richard Löwenherz, der dort gefangen gehalten wird, zu befreien und dessen selbstsüchtigen Bruder John zu verjagen. Der Thronräuber (Jonas Friedrich Leonhardi) ist ein Schreihals, Fresssack und Leckermaul mit (umgeschnallter) Wohlstandsspeckrolle. Die Vaganten-Bühne bietet auf einen Dreh hin ausgedünnten Wald mit abgesägten Stümpfen und Bäumen von Pappe und einen halben Dreh weiter einen Haufen Goldglitter, Popcornbehälter, Colaflaschen, Konsumramsch und diversen Trash, von dem herab John regiert. Zur Girlgroup von Sherwood Forest gehören neben Robin die rappende Vegetarierin Little John (Annina Hunziker) und das Adelsfräulein Marian (Yulia Yáñez Schmidt). Das weibliche Prinzip erkennt Gnade vor Recht und stimmt das Wir-Gefühl an. Bisschen zu dick aufgetragen vielleicht, aber nicht so dick wie Prinz Johns Bäuchlein. AWI
Ab 6 Jahren, zahlreiche Vorstellungen bis 23. Januar, dhaus.de