„Aznavour by Charles“ ist eine ganz besondere Dokumentation. Denn er hat die privaten und intimen Aufnahmen selbst gedreht oder andere haben sie für ihn mit seiner Kamera gefilmt. Das gesammelte Zelluloid wurde 2017 in seinem Haus an verborgenem Ort gefunden von Marc di Domenico, der es, Schachtel für Schachtel, Rolle für Rolle, gesichtet, montiert und komponiert hat.
Das Sängerische und das Theatrale gingen bei Aznavour eine unlösbare Verbindung ein. Auf der Bühne war er nie allein Interpret des Chansons, er war der grandiose Darsteller des Liedes – und Autor seiner eigenen Person. Dass er auch Schauspieler war, ein großartiger, wissen wir, früh etwa aus Truffauts „Schießen Sie auf den Pianisten“, später etwa in Geißendörfers „Zauberberg“-Verfilmung als Naphta und in Volker Schlöndorffs „Blechtrommel“ als Spielzeughändler Markus, der dem Oskarchen sein Instrument gibt.
Überall und ständig habe er gefilmt, sagt er hier mit der Stimme von Romain Duris aus dem Off, auf Super 8 und mit 16mm, in Schwarzweiß und Farbe. Dank des Materials sehen wir ein biografisches Puzzle und wie ihm durch die Kamera „die Gegenwart ins Gesicht peitscht“.
Der ‚kleine’ Franko-Armenier, der bei Kenntnis seiner Defizite ganz nach oben wollte, der sich „unersättlich“ nennt und „lauter brüllen will als der Panther auf Catherine Deneuves Schultern“ in ihrem Pelzmantel, der sich auf Capri im Rolls Royce chauffieren lässt, er erreicht den Olymp des Ruhms. Genießt polyglott das dolce vita, ohne jedoch seine Herkunft als Sohn eines Flohmarkthändlers und sein Kunstethos zu verraten.
Oft läuft er selbst durchs Bild – „ich filme, also existiere ich“: im legendären Olympia in Paris, wo sein Name in roter Leuchtschrift am Portal aufgehängt wird, in der Garderobe, im Maßanzug, rauchend, nervös die Hand bewegend im Rhythmus der Ankündigungsmusik zu seinem Auftritt. Oder in Swinging London, Venedig, Tokio, Moskau, Hongkong, Jerusalem, am Broadway und im „New York der Emigranten“, das ihn, den Exilierten, interessiert, in Marokko, wo er in Casablanca den ersten fulminanten Konzerterfolg feiert, in der alten Heimat Eriwan („das Unsichtbare in mir“).
Voller Neugier auf Menschen, Gesichter, Geschichten. So etwa filmt er paradierende Soldaten während Dreharbeiten zu „Taxi nach Tobruk“ mit Freund und Kollege Lino Ventura und meint, „Uniformen sollten nur im Kino eingesetzt werden“. Beim Dreh mit Georges Franju kann er das Kamera-Auge nicht lassen von der wunderschönen Anouk Aimée. Oder er improvisiert bei einer Jazz-Session am Flügel oder gastiert 1963 in der Carnegie Hall. 1952 sehen wir Charles auf dem Atlantik unterwegs nach New York mit Freundin Evelyne – sie spricht von seiner „Mischung aus Selbstsicherheit und Schüchternheit“; sie reisen zur Trauung von Edith Piaf, die ihn entdeckt hat und deren Sekretär er für eine Weile war.
Zu den Bildern hören wir seine klugen, aphoristischen oder poetischen (nie touristischen oder banalen) Kommentare, die auch Thema oder Zeile eines Chansons hätten sein können. Nicht selten sind es schmerzliche, melancholische und trauernde Gedanken über Verluste: wie den Tod des Sohnes Patrick mit 25 Jahren, die Trennung von Evelyne, die wir noch bei ihrer gemeinsamen Hochzeit beobachten, während er schon über ihrer beider konträre Anschauung vom Leben nachsinnt. Dazu singt Aznavour sein: „Hier encore, j’avais vingt ans“. Aber schon gewinnt er sich die nächste Frau, „She“, seine „blonde Hälfte“, die Schwedin Ulla, die er in Las Vegas ehelicht.
Ja, und dann Aznavour, der Künstler: das Spiel mit den Augenbrauen, sein Grinsen, die weit ausholende Geste, das ganze Repertoire dieses neben Sinatra womöglich begnadetsten Entertainers. Dazu die raue, kraftvolle und zarte Stimme, in der vom ersten Ton an wehmütiges Schweben mitsingt, die er dehnt und nachhallen lässt im Bescheid-Wissen über die Dinge des Lebens und der Liebe, über das Unglück und das, was verloren ging.
Der Film bleibt im besten Sinn des Wortes: Aznavours Poesie-Album.
Ab dem 20. Mai als Streaming-Angebot beim Arsenal-Filmverleih