TEXT HONKE RAMBOW
Der Begriff Expressionismus, in der bildenden Kunst Markenname und Label für Großausstellungen, auflagenstarke Kalender und Kunstdrucke, klingt in Bezug auf die anderen Künste nach Schwierigem und Kantigem. Wer liest expressionistische Schriftsteller wie Georg Kaiser, hört die Musik von Paul Hindemith, schaut im Kino »Das Cabinet des Dr. Caligari«? Auch die expressionistische Architektur, wo sie sich noch findet, hat wenig Aufmerksamkeit, verglichen mit der Begeisterung für die Stilepochen von Jugendstil oder Bauhaus. Der Architekt und Professor an der ETH Zürich Christoph Rauhut und der Architekturfotograf Niels Lehmann haben die Ambition, dieses architektonische Erbe ansichtig zu machen.
2015 veröffentlichten sie die vielbeachteten »Fragments Of Metropolis – Berlin«. Nun folgt »Fragments Of Metropolis – Rhein & Ruhr« als zweiter Teil eines europaweit angelegten Projekts. Ein auf den ersten Griff schönes Buch in bester Papierqualität und stabiler Bindung. Dennoch kein konventionelles Coffee Table Book. Schon das Format ist dafür zu handlich; die Fotografien Lehmanns setzen nicht auf Spektakel, sie sind schlicht und dokumentarisch – mit sicherem Gespür für die Gedankengebäude der Architekten. Die Autoren wollen, dass ihr Buch benutzt wird: von Architekturhistorikern, die darin eine Basis für die Beschäftigung mit dem Expressionismus finden, und interessierten Laien, um auf Entdeckungstour zu gehen.
Dass neben der alten und neuen Hauptstadt die Rhein-Ruhr-Region dafür erstklassiges Terrain ist, zeigt eine Karte von Deutschland und den Nachbarländern mit allen erhaltenen Metropolis-Fragmenten. Die Dichte der Baudenkmäler ist zwischen Düsseldorf und Hagen nochmals höher als in Berlin. In einem klugen, konzentrierten Einleitungsaufsatz legt Rauhut die historischen Voraussetzungen dar; zum einen spiele die paradoxerweise aus dem Versailler Vertrag gestärkt hervorgegangene Industrie eine Rolle, daneben habe die französische Besetzung der Region den Bauboom bis in die Mitte der 20er Jahre und somit in die Hochzeit des expressionistischen Stils hinein verzögert.
Und dann waren es starke Persönlichkeiten, die in den Städten unterschiedliche Ausprägungen beförderten. Besonders interessiert sich Rauhut für den Vergleich zwischen Essen und Düsseldorf, wo Alfred Fischer und Peter Behrens eigene Kunstgewerbeschulen gründeten. Behrens scheiterte in Düsseldorf an der Politik und dem allgemeinen Geschmack und ist im Buch nur mit einem einzigen erhaltenen Bauwerk in Oberhausen vertreten. Das Ensemble um Ehrenhof und Tonhalle, das sein Nachfolger Wilhelm Kreis für die »Große Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen« baute, fiel ebenfalls bei den Düsseldorfern durch. Fischer hingegen versammelte in Essen mit Edmund Körner und Georg Metzendorf einen Kreis herausragender Architekten, schaffte mit seinem handwerklich geprägten Gesamtkunstwerk-Ansatz den Schulterschluss mit der Industrie und prägte nach der Eingliederung der Kunstgewerbeschule in die Folkwang Hochschule deren herausragenden Ruf mit.
Rauhut und Lehmann geht es auch um eine aktuelle Debatte. In den vergangenen Jahren wurde vor allem um das Erbe der Nachkriegs-Moderne aus den 1950er und 1960er Jahren gekämpft. So richtig und wichtig dies ist, da in diesen Phasen Linien für den Umgang mit den baukünstlerischen Zeugnissen gezogen werden, darf nicht vergessen sein, dass auch das expressionistische Vermächtnis gefährdet ist. Ein besonders dramatisches Beispiel nennt Rauhut mit dem Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen. Der Bau von Alfred Fischer, 1927 fertig gestellt, ist nur noch als Fassaden-Chimäre erhalten. Kommunale Streitigkeiten um eine Sanierung sorgten dafür, dass das denkmalgeschützte Gebäude letztlich abgerissen wurde, das weltweit erste Farbleitsystem im Inneren damit verloren ging und die größte erhaltene spätromantische Walcker-Orgel aus dem Festsaal jetzt eingelagert ist.
Warum es so wichtig ist, sich an die Qualität der expressionistischen Architektur zu erinnern, schreibt Paul Kahlfeldt in einem flammenden Eingangsplädoyer: »(…) schlechtes Benehmen in der Baukunst wird heute bestenfalls hingenommen, oftmals sogar befördert und als zeitgemäß angesehen. Entweder entstehen einfachste Kisten mit dünnen Verpackungen aus Glas, Beton oder Ziegel, deren Auswahl nur geschmacklichen und ökonomischen Vorgaben gelangweilter Entscheider folgt, oder jähzornig gezackte, eventuell trotzig gekrümmte Basteleien, mit Plastik, Blech und Plexiglas überzogen.« Die sichtbaren Beispiele der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts sind in seinen Augen das beste Antidot gegen Ignoranz, Banalität und schlechten Geschmack.
Christoph Rauhut, Niels Lehmann: »Fragments Of Metropolis – Rhein und Ruhr«, Hirmer Verlag, München 2016, 256 S., 150 Abb., 29,90 Euro.