TEXT: KATJA BEHRENS
Lebensekel empfanden sie und Langeweile, Überdruss und Weltschmerz. Die Großstadtmenschen im Paris des 19. Jahrhunderts waren zumindest in den »höheren Ständen« häufig von einem robusten Daseinsglück weit entfernt. Der französische Dichter Charles Baudelaire hat diesen Gefühlslagen und Befindlichkeiten einst in seiner Lyrik Ausdruck verliehen. Bis zu seinem Tod feilte der Dandy und Flaneur an seinem Werk, vereint im Gedichtband »Les Fleurs du Mal«
Inzwischen sind die »Die Blumen des Bösen« in der Provinz angekommen. Der Titel prangt seit März in der Ruhrpott-Stadt Marl an der Fassade des Rathauses. Unten, neben der großen Freitreppe, die zum Standesamt führt, steht seither auch eine große Vase, hellgrau und aus Beton – wie der Rest des 60-Jahre-Baus. Frische Blumen sind oft darin, anscheinend von Passanten und Bürgern. Das Museum Glaskasten im Untergeschoss wechselt manchmal das Wasser. Und irgendwer entsorgt die welken Pflanzen.
Die Intervention stammt vom Düsseldorfer Konzeptkünstler Mischa Kuball, der den Begriff der Teilhabe hier sehr deutlich und offenkundig durchaus erfolgreich buchstabiert. »Ich hätte nie gedacht, dass die Marler Bürger die Vase tatsächlich als einen Weckruf verstehen würden, als einen Appell, endlich die gewünschten Veränderungen in ihrer Stadt selbst in die Hand zu nehmen. Aber das geschieht jetzt wohl wirklich«, begeistert sich Kuball.
WAS TUT SICH WIRKLICH IN MARL?
Ein Künstler ruft die Bürger einer kleinen Stadt im nördlichen Ruhrgebiet mit Anspielungen an einen französischen Dichter, der sich voller Spott und Abscheu über die Großstadt Paris und deren Bewohner ereifert, zu sozialer Teilhabe und Aktivität auf? Wie passt das zusammen? Und was tut sich wirklich in Marl?
So Einiges. Denn es herrscht schon seit langem Unmut in der schrumpfenden 87.000-Einwohner-Gemeinde, unter anderem über die Stadtentwicklung. Bei der Bürgerliste »WIR« etwa klingt das so: »Jahrzehntelang wurde Marl von dem Traum geprägt, Großstadt mit 140.000 Einwohnern zu werden. Schwerpunkt dieser Planung war der Bau einer übergroßen Stadtmitte auf der grünen Wiese. Dabei wurde eine Vernetzung mit den übrigen Stadtteilen fahrlässig vernachlässigt. Ergebnis ist eine von Beton beherrschte, unansehnliche Innenstadt, sowie die Schwächung der natürlich gewachsenen Ortsteile.«
Man hatte sich in Sachen Stadtentwicklung tatsächlich schon früh ins Zeug gelegt. Die aufstrebende Industriestadt – erst Steinkohle, später Chemie – hatte bereits 1922 mit dem Rappaport-Plan begonnen, die Bewohner aus den Industriezonen weg in die Vorstädte zu lenken, diese mit einem Grüngürtel einzuhegen und dann tatsächlich eine Stadtmitte zu schaffen. Das schlug einigermaßen fehl, denn mit den Eingemeindungen zahlreicher Dörfer franste die Stadt zunehmend aus. Mit der Mitte war es erstmal vorbei.
Erst in den 60er Jahren gelang es den holländischen Architekten van den Broek und Bakema, mit dem Rathausneubau, diese Mitte dann doch zu kreieren. Über die Planung und Idee, aus Marl eine Großstadt zu machen, hatte der Regisseur Peter Lilienthal damals den Dokumentarfilm »Versuch einer Stadt« gedreht. Vielleicht war man auf etwas Glamour aus, wollte wenigstens im Privatleben die Nähe zu Industrie und Arbeit ein bisschen kaschieren und vergessen.
Metropolen-Flair, Bürgertum, Privatheit, … unter diesen Aspekten möchte Mischa Kuball seine Baudelaire-Referenz allerdings nicht verstanden wissen, eher als Sinnbild. Mitte des 19. Jahrhunderts seien mit »Les Fleurs du Mal« erstmals auch emotionale Schichten von Empörung öffentlich gemacht worden – das sei sein Ansatzpunkt. »Die Leute sollen sich aufregen und aktiv werden.« Die Blumen seien dafür nur das Symbol.
Interessanterweise war Marl kürzlich Teil der Kooperationsausstellung »gestern die stadt von morgen« über architektonische Visionen der 1960er und 70er Jahre, die das Bild und die Wahrnehmung vieler Ruhrgebietsstädte geprägt haben. Heute mögen die Utopien verblasst sein, damals waren diese Bauten Ausdruck einer optimistischen Lebenseinstellung und Zukunftserwartung.
Spannbeton wurde zu gewagten Hängekonstruktionen, gläserne Durchblicke öffneten Innen- und Außenraum – eine unhierarchische Form, die auch auf die Zugänglichkeit der Gebäude für den Bürger hindeuten wollte. Autoritäre und Ehrfurcht heischende Baustile sollten überwunden werden.
Aber es ist zumindest fraglich, ob dieses Verständnis von Gemeinschaft und Bürgersinn noch präsent, der Geist des Aufbruchs im Stadtbild noch ablesbar sind – und ob der immer wieder zu erneuernde Blumenschmuck in Marl den aktuellen Ansprüchen an eine bürgernahe Stadt tatsächlich gerecht wird. »Außer den Blumen hat sich bis jetzt nichts geändert«, sagt eine Frau.
1982 zog zwar das Skulpturenmuseum in die untere Etage des neuen Rathauses ein, den Namen Glaskasten wie ein Programm stolz vor sich hertragend. Und tatsächlich ist die Transparenz Markenzeichen und Ausdruck des demokratischen Geistes, in dem das Haus errichtet wurde. Inzwischen ist es aber ein Denkmal, hatte wegen Kontaminierung mit der Chemikalie PCB zwischenzeitlich sogar abgerissen werden sollen.
Ohne die »WIR«-Kämpfer für alle sprechen zu lassen, verstärkt sich der Eindruck, dass die Idee eines heimeligen Stadtzentrums für die meisten Menschen angenehmer ist als die tatsächlich realisierte kühle und abstrakte Idee der gebauten Partizipation.
Aber vielleicht beginnt sie ja doch noch, die ersehnte bürgerliche Gemeinschaftlichkeit – mit Mischa Kuballs Vase. Sie ist ein Geschenk an die Bürger von Marl – mit der einen kleinen Verpflichtung, sie zu befüllen mit Wasser und Blumen. Und wenn mal keine Blumen darin stünden, dann sei das auch kein Unglück. »Vor ein paar Wochen war noch nicht einmal die Vase da«, hebt Kuball hervor.
Bis Ende 2014. Skulpturenmuseum Glaskasten Marl. Tel.: 02365 / 99 22 57. www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de