Zeitlebens hat sich James Ensor zeichnend und malend befragt, um die Facetten seiner Persönlichkeit auszuloten. Zum 75. Todesjahr versammelt das Ensor-Haus in Ostende einige seiner Selbstporträts.
Mehr als 100 Selbstporträts umfasst das Werk von James Ensor. Selbst Rembrandt, von dem ‚nur‘ 80 Selbstbildnisse erhalten sind, vermag in dieser Hinsicht mit der Produktivität des belgischen Malers (1860-1949) nicht mitzuhalten. In seinen frühesten Selbstbildnissen tritt uns der 19-jährige Student an der Académie royale des Beaux-Arts de Bruxelles im Dreiviertelprofil entgegen. Eines dieser drei Bilder, die 1879 entstanden sind, rückt den Kopf des dunkelhaarigen, bartlosen Künstlers ins Zentrum. Im zweiten schaut uns Ensor als Halbfigur an, im dritten steht er an der Staffelei. Obwohl diese Darstellungen noch konventionell sind, zeichnet sich im freien und souveränen Umgang mit der Farbe das Potenzial des Malers schon deutlich ab.
Fünf Jahre später begegnet uns im »Selbstporträt mit Blumenhut« ein Maler, der auf Erfolgskurs ist. Bei tonangebenden Salons in Belgien ist Ensor Stammgast. 1883 gehört er zu den Mitbegründern der Avantgarde-Gruppe Les XX. Keck trägt er Federn auf dem Kopf – eine Anspielung auf seinen berühmten Landsmann, den Barockmeister Peter Paul Rubens, dessen Selbstporträt im Kunsthistorischen Museum Wien mit einer prächtigen Kopfbedeckung aufwartet. Bei Ensor wird daraus ein Blumenhut, dessen Flower-Power-Look ihn beinahe als einen Hippie erscheinen lässt.
Das Rollenspiel lag dem Maler im Blut, wie die von Xavier Tricot kuratierte Werkübersicht im Ostender Ensor-Haus mit Beispielen zeigt. Ensors Selbstporträts zeugen von der Fähigkeit, sich in Charaktere und Kostümierungen hineinzufinden. Der Verwandlungskünstler präsentierte sich als Christus am Kreuz oder mit Dornenkrone, am Harmonium oder zwischen Masken, zum Hering mutiert und von Kritikern zerfleischt. Bahnbrechend eine kleinformatige Radierung von 1888, betitelt »Mein Porträt im Jahre 1960«. Hier imaginiert sich Ensor als Hundertjährigen: ein am Boden liegendes Skelett mit aufgerichtetem Oberkörper, dessen wachen Augen die Umgebung mustern. Eines der ungewöhnlichsten und radikalsten Selbstporträts der Kunstgeschichte.
Ebenso bemerkenswert ist »Das malende Skelett« von 1896. Eine Atelierszene, die den Künstler an der Staffelei zeigt. Seinen Kopf ersetzt ein Totenschädel. Weitere bevölkern das Bild, unten zieht eine muntere Maske die Aufmerksamkeit auf sich. Während andere Künstler des 19. Jahrhunderts, Lovis Corinth oder Arnold Böcklin, ihren Selbstbildnissen das Skelett als mahnendes Attribut hinzufügen, um die Vergänglichkeit des Daseins zu symbolisieren, scheint Ensor gar seinen Schabernack mit dem Schädel zu treiben. Kurios und revolutionär: Er selbst, an der Staffelei arbeitend, mimt den Sensenmann. Und er scheint sich in dieser Rolle wohl zu fühlen: Die Atmosphäre des Gemäldes ist nicht morbide, sondern geradezu vital.
Einen besseren Ort für die Präsentation der Selbstporträts als das Ensor-Haus kann man sich schwerlich vorstellen, weil das Gebäude in der Vlaanderenstraat 29 selbst gleichsam ein architektonisches Porträt von James Ensor ist. Im Erdgeschoss des Hauses, das seinem Onkel Leopold Haegheman gehörte, betrieben seine Mutter Catharina und deren Schwester Mimi einen Laden. Dort gab es Souvenirs, Muscheln, Kuriositäten, Scherzartikel, Masken und Karnevalskostüme. Eine visuelle Fundgrube für den kleinen James, der als »Maler der Masken« in die Kunstgeschichte eingehen sollte.
1917 erbte Ensor das nahe der Strandpromenade in Ostende gelegene Stadthaus, das er mit seinem Diener Auguste Van Yper bezog. Hier wohnte und arbeitete er bis zu seinem Tod im November 1949. Zwar machte er den Andenkenladen bald dicht, änderte aber nichts an dessen Einrichtung. So können Besucher*innen des Künstlermuseums noch heute in diese Wunderkammer eintauchen und nachvollziehen, was Ensor in jungen Jahren inspirierte.
Dazu bringen uns fünf Erlebnisräume mit Möbeln, Werkreproduktionen und Dokumenten seinem Leben und Schaffen ganz nah. Höhepunkt des Rundgangs ist der gutbürgerlich-gediegene »Blaue Salon«, den der Künstler als Empfangsraum, Wohn-, Esszimmer und Atelier nutzte. An diesem magischen Ort mag es einem vorkommen, als habe Ensor bis vor kurzem noch hier gewohnt. Authentischer geht es nicht.
»James Ensor. Selbstporträts«, Ensor-Haus, Ostende, bis 16. Juni 2024
https://ensorhuis.be/de/sonderausstellung-james-ensor-selbstportraets