TEXT: ANDREAS WILINK
Es ist heiß auf der Probebühne Central. Überhitzt wie, nun, wie an Wintertagen in einem russischen Salon. Ein solcher steht mit seinem Mobiliar auch vor uns. Andrea Breth hat gerade eine Probe beendet. Sie war gestürzt und hatte sich den Rücken geprellt: »Was ist das nur? In Düsseldorf werden alle krank und fallen hin.« Vor ihr ein Teller mit geschnittenem Obst. Sie ist präzise, aber salopp, konzentriert, aber lässig. Manchmal trifft einen ein spöttischer Blick, hinter dem bei Gelegenheit gewiss noch etwas anderes kommen könnte. Tut es aber nicht, hier und jetzt. »In jeder Szene fordert er uns alle heraus, wie in der griechischen Tragödie Haltung zu beziehen«. Hat sie gesagt über Schiller und seinen »Wallenstein« in einer philologisch fantastisch aufgerüsteten Rede bei Entgegennahme des Berliner Theaterpreises 2006. Es könnte auf sie selbst gemünzt sein. »Kunst ist der Versuch, den Menschen zu begreifen«, sagt sie ebenfalls – mittlerweile fast ein Alleinstellungs-Merkmal auf unseren Bühnen. Breth, die Grüber, Noelte und Stein zu Vorbildern zählt, hat im Düsseldorfer Schauspielhaus am 7. Januar 2012 Premiere mit Isaak Babels »Marija«. Für sie eine weitere Erkundung von Passionsgelände.
K.WEST: Frau Breth, welchem Umstand verdankt sich Ihr Hier-Sein?
BRETH: Ich fühle mich Staffan Valdemar Holm gegenüber befreundet. Er hatte mich mehrfach ans Dramaten in Stockholm eingeladen, um zu inszenieren. Aber ich musste ablehnen, weil ich sehr mit Sprache arbeite und es vermessen fand, da ich kein Schwedisch spreche. Als er in Düsseldorf Intendant wurde, sagte er, ich hätte nun keine Ausrede mehr. Ich erlebe hier Gastfreundschaft. Man macht mir schon ein schönes Bett.
K.WEST: Ist ihnen bewusst oder begreiflich, dass man sich Ihnen mit einer gewissen Scheu nähert?
BRETH: Nein, wirklich nicht. Ich finde, ich bin ein umgänglicher Mensch. Es mag damit zu tun haben, dass etwas von einem in die Welt gesetzt wird, eine Art Fama, zumeist von Leuten, die einen gar nicht kennen. Vielleicht bin ich nicht sehr konziliant – oder finde nicht interessant, was ich gefragt werde.
K.WEST: Sie sprechen von Ihrer mangelnden Menschenkenntnis im persönlichen Leben. Gleichwohl haben Sie absoluten Sinn für den Menschen auf der Bühne. Der Dramatiker Albert Ostermaier schreibt, Sie seien »bei völligem Bewusstsein unbewusst«.
BRETH: Ich habe wenig Ahnung, wie ich wirke. Man glaubt immer, ich sei ein rein analytischer Mensch. Aber ich muss alles vergessen, wenn ich auf der Probe bin. Nicht alles kommt aus dem Kopf. Man muss wissen, was im Text steht, muss es dann aber an der Figur und dem Schauspieler überprüfen. Das eine ist Pflicht, das andere Kür. Etwas anderes muss ins Spiel kommen: »Es«. »Es« macht etwas mit einem. Nur so kann man inszenieren. Außerdem, wir machen doch kein Befindlichkeitstreffen.
K.WEST: »Es«, wie in der écriture automatique und bei den Surrealisten. Julien Green, dessen »Süden« Sie in Bochum inszeniert haben, meinte, dass ein Anderer seinen Stift führe.
BRETH: Es ist unheimlich, jemand zu sein, der nicht die Autonomie über sich hat.
K.WEST: Sie haben ein Faible fürs Russische, haben Gorki, Tschechow, Dostojewski, Puschkins »Onegin« als Tschaikowskys Oper, Daniel Charms, Alexander Wampilow inszeniert. Nun Isaak Babel. Bei ihm finden Sie aber nicht die Melancholie, die Sie sonst an dieser Literatur schätzen.
BRETH: Nein, überhaupt nicht. Das ist von einer Brutalität und dabei Genauigkeit und Klarheit, wie Menschen seziert werden. Babel zeigt, was die Geschichte mit Menschen treibt, dass die Not uns zu Bestien macht. Menschen sind entmachtet in seinem Stück von 1920. Da ist kein Platz für Heroisches. Mit seinen 22 Figuren erzählt er eine komplette Gesellschaft. Alle gehen bravourös unter. Keiner, der glorreich überlebt.
(Wie auf Stichwort sieht Andrea Breth eine Ratte durch die Kulissen flitzen. Als habe das Klima des Stücks sich eine Kreatur erzeugt.)
K.WEST: Um es mit Babel zu sagen, ein »Scheißleben« – soziale Verwerfungen, postrevolutionäre Deklassierung, moralische Korruption, Verrohung. Die Figuren tragen »die Male der Zerrüttung«, wie Adorno sagen würde. Das Gestern erscheint verloren, das Heute vulgär, das Morgen zu schön, um wahr zu sein. Wie geht man mit dieser Menschheitsdämmerung um?
BRETH: Sehr einfach. Man muss den Text ganz genau nehmen und die Situationen exakt betrachten. Es ernst nehmen und in die Tiefe hineingehen. Keinesfalls darf man atmosphärisch gestalten, dann schlafen wir alle tief und fest. → Jede Szene in den acht Stationen springt mitten rein. Babel schneidet filmtechnisch. Batz!, kriegen wir das nächste Bild um die Ohren geschlagen. Es fliegt uns geradewegs ins Gesicht. »Marija« ist weder kitschig noch sentimental. Bestimmte Situationen erlauben keine Sentimentalität.
K.WEST: Man muss es »streicheln mit geballter Faust«, hat ein Kritiker geschrieben, als Flimm in München »Marija« inszeniert hat.
BRETH: Es ist sehr ziseliert, keinesfalls grobianisch. Das ist auch meine Angst. Das Große Schauspielhaus hat eine völlig falsche Proportion, das muss jemand entworfen haben, der die Menschen nicht mag. Ich weiß nicht, ob ich diesen Theaterraum schaffe. (Andrea Breth macht eine Bewegung mit den Armen, als würde etwas vorwärts drängen und Antriebskräfte freisetzen). Man müsste die Leute bitten, sich den Kontext zu erlesen. Babels Reportagen etwa, die er für Gorkis Zeitschrift verfasst hat.
K.WEST: Babel kann nicht an die Utopie geglaubt haben, die sein letztes Bild im Stück darstellt, wenn das Proletariat – »Leute aus dem Keller« – die Wohnung der Bürger übernehmen.
BRETH: Babel hat »Marija« selbst ja nie erlebt. Ich könnte Stalin noch heute erschießen, dass er dafür die Verantwortung trägt, dass Babel, der Jude aus Odessa, 1942 ermordet wurde. Babel war trickreich, schon aus Überlebensnotwendigkeit. Angst und Skepsis haben aber bestimmt überwogen. Doch jeder hat gern ein Ideal. Wir sind viel schlimmer dran. Wir haben gar nichts mehr und reden nur noch über Aushebeln und Rettungsschirme.
K.WEST: »Marija« könnte das frühe Vorspiel zu dem Stück »Letzten Sommer in Tschulimsk« über die Breschnjew-Ära sein,1992 von Ihnen an der Schaubühne inszeniert, wo dem Sozialismus jede Utopie ausgetrieben ist, den Menschen Apathie erfasst hat und Bürokratie alles reguliert.
BRETH: Stimmt. Ich wundere mich aber, dass Sie bis jetzt nicht gefragt haben, warum ich ausgerechnet dieses Stück inszeniere.
K.WEST: Bitte, sagen Sie es.
BRETH: Ich muss es unbedingt machen, weil ich glaube, dass wir uns in kürzester Zeit in ähnlichen Situationen befinden werden, dass es schleunigst den Bach runter geht mit uns. Es ist eine ungeheure Beunruhigung in der Welt. Es liegt Revolution in der Luft. Ich möchte das nicht erleben.
K.WEST: Sie spüren darin das Nervenkostüm unserer Zeit. Und was ist mit der Brutalität bei Babel. Lässt sich das darstellen?
BRETH: Gewalt auf der Bühne zu zeigen, ist schwer. Damit es sich beglaubigt, angesichts der Tonnen von Gewalt täglich im Fernsehen. Als ich in Wien »Motortown« von Simon Stephens inszenierte, haben wir lange daran gebastelt, einen Schuss zu zeigen, der durch einen Menschen hindurchgeht, zusammen mit einem Pyrotechniker. Die Leute in der Vorstellung waren entsetzt. Schrieben Beschwerdebriefe – das hat mich verblüfft, teilweise amüsiert. Wieso reagieren Zuschauer hierauf empfindlich, aber nicht auf Shakespeare, etwa auf »Richard III.«? Offenbar ist die zeitliche Distanz ein Faktor, der es eher zumutbar sein lässt.
K.WEST: Die ständige Ausnahmesituation, die man bei Babel erlebt, die beschäftigt Sie grundsätzlich?
BRETH: Entschuldigung, das ist das Theater. Wenn es um nichts geht, muss man es überhaupt nicht machen. Ich hielte es sonst gar nicht aus. Ich kann und will nichts anderes als das Theater. Weil ich ᾽ne Meise habe. Und am liebsten endlos lange probe, damit ich nicht hier raus und in den Alltag muss.
K.WEST: Das klingt fast nach Selbstverwirklichung statt nach Stückverwirklichung. Ist auch nicht unbedingt ein Gegensatzpaar.
BRETH: Nein. Meine Person spielt keine Rolle. Ich habe den Dichter Wenn ich mich selbst verwirklichen wollte, müsste ich schreiben. Kann ich aber nicht.
K.WEST: Deshalb bezeichnen Sie sich als Sekundärkünstler.
BRETH: Ja. Aber ich mache auf dem Theater nichts, was ich nicht machen will.
K.WEST: Und was machen Sie zwischendurch? Wenn keine Proben sind.
BRETH: Neue Projekte und Stücke vorbereiten. Das ist wie ein riesiges Forschungsfeld.
K.WEST: Gibt es ein künstlerisches Genre, aus dem sie bevorzugt Anregung beziehen?
BRETH: Als erstes sicherlich die Literatur. Aber auch Malerei, Fotos, Film, Musik, die man dann aber nicht benutzt in der Aufführung.
K.WEST: Welche Musik etwa bei der Vorbereitung zu Babel?
BRETH: Da hatte ich Musik im Kopf, sie aber nicht aufgelegt: Schostakowitsch – und sowjetische Propagandamusik. Sehr schön zum Mitsingen geeignet.
K.WEST: Man könnte sagen, es gibt zwei Leitmotive in Ihrer Arbeit: Die Welt ist aus den Fugen – Trotzdem.
BRETH: Das erste ist Kleist, das zweite Tschechow.
K.WEST: Sie bevorzugen Stücke, an denen Sie »intellektuell kauen« müssen, wie Sie sagen. Sie haben insgesamt viermal Kleist, dreimal Lessing, Schiller, Tschechow, Schnitzler, aber nur einmal Shakespeare – 1989 »Was ihr wollt« in Bochum – gemacht. Es kann nicht daran liegen, dass der Ihnen nicht bissfest und zu breiig ist.
BRETH: Die Messlatte hängt zu hoch…
K.WEST: Glaube ich nicht.
BRETH: Nun, »Hamlet« würde ich schon gern machen. Aber es ist auch eine Besetzungsfrage. Man muss einen Hamlet haben…
K.WEST: »Schön ist nur, was ernst ist«, sagt der Arzt in Tschechows »Möwe«. Was sagen Sie dazu?
BRETH: Da hat er recht. Ernsthaftigkeit heißt, dass man einer Figur, mit allem, was sie macht, ihre Würde belässt. Bei Babel geht genau das verloren. Einige versuchen, es aufrecht zu erhalten – vergeblich.
K.WEST: Ist Grazie ein Begriff, der Sie interessiert?
BRETH: Was verstehen Sie darunter?
K.WEST: Anmut.
BRETH: Finde ich wunderschön – aber selten.
K.WEST: Es gibt keine Liebe in Babels Petrograd? »Sich gegenseitig den Abgrund verbergen. Das ist Liebe.«, hat Julien Green seinem Tagebuch anvertraut. »Denn alle Krankheit ist verwandelte Liebe«, heißt es im »Zauberberg«. Teilen sie die Sicht auf Liebe als fast pathologisches Phänomen?
BRETH: Schwieriges Thema. Wenn man es genau definieren will, ist es eigentlich vorbei. Mich interessieren die kleinen Verschiebungen. Wie man jemandem die Hand gibt oder Guten Tag sagt, ihn unabsichtlich übersieht, eine Kränkung auslöst, jemanden verletzt, indem man einen Moment von Nähe abwürgt. So etwas.
K.WEST: Was muss ein Schauspieler für Sie haben?
BRETH: Talent.
K.WEST: Sonst nichts?
BRETH: Ein Geheimnis. Das ich nicht wissen will. Etwas ist noch anwesend, das ich nicht weiß. Manchmal reicht ein Blick. Selbst wenn der Schauspieler dabei nur an Coca Cola denken würde, wäre mir egal. Ich bin schon froh, es zu spüren. Es ist auch eine Frage der Aura. Entweder eine Spannung ist da, etwa zwischen zwei Schauspielern, oder eben nicht. Man erlebt Überraschungen. Aber es kann immer auch sein, dass man den Schlüssel zu jemandem nicht findet.
Andrea Breth, geb. 1952 in Darmstadt, begann nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium als Regieassistentin in Heidelberg und Bremen; 1983 wurde sie erstmals mit Lorcas »Bernarda Alba« aus Freiburg zum Berliner Theatertreffen eingeladen; mehr als ein halbes Dutzend weiterer Einladungen folgten, darunter für ihre triumphale Wiederentdeckung von Julien Greens »Süden«, 1987 in Bochum, und zuletzt 2005 mit Schillers »Don Carlos« vom Wiener Burgtheater, wo sie seit langem kontinuierlich und mit ihrer Ensemble-Familie arbeitet; Breth war in den 1990-er Jahren künstlerische Leiterin der Berliner Schaubühne; im Sommer 2012 wird sie wieder bei den Salzburger Festspielen inszenieren: Kleists »Prinz von Homburg« mit August Diehl in der Titelrolle.