Interview Andreas Wilink
Noch kämpft er in Dresden, der zerrissenen Stadt. Schulz, 1952 geboren und in Berlin und Paris zum Geisteswissenschaftler geworden, ist einer der klügsten Köpfe der Theaterrepublik. Mit k.west spricht er über Radikalität und Abwägen, über das rheinisch Spielerische, das Aushalten-Müssen von Differenz im Theater, Sehnsüchte des Publikums – und schöner Wohnen in Düsseldorf-Oberkassel.
k.west: Haben Sie Ihr Wort gebrochen, das sie sich selbst gegeben hatten, als Sie sagten, Sie würden Ihre Intendanz nur im Haus am Gründgens-Platz beginnen? Diese Vorbedingung hat sich durch die Baumaßnahmen am Kö Bogen II erledigt. Sie müssen im Central und anderswo anfangen. Warum machen Sie das Theater mit?
Schulz: Weil das Theater nicht mein Privatvergnügen ist. Weil viele Menschen dran hängen, viele hier, viele, die ich eingeladen habe, herzukommen, und weil es Zuschauer gibt, die warten und für die Theater ein wichtiger Teil ihres Lebens ist. Ich verhehle nicht, dass ich mich maßlos geärgert habe darüber, dass die Konstellationen nicht so wie erwartet und besprochen zustanden kommen. Vorsichtig formuliert, es gibt wohl objektive Gründe, weshalb wir das Schauspielhaus nicht beziehen können für ein Jahr. Die bauliche Situation in der Umgebung verhindert es. Und die Stadt hat erst einmal andere Prioritäten gesetzt. Ich will das nicht kommentieren. Aber es ist sehr schwer, zu starten und einem Haus Identität zu geben – ohne ein Haus zu haben. Ich versuche, meinen Resthumor zu bewahren und ein neues Konzept für die erste Spielzeit zu entwickeln.
k.west: Wie planen Sie alternativ ohne zentralen Spielort?
Schulz: Ich möchte nicht larmoyant sein und all das beschreiben, was nicht geht. Ein Theater ohne festen etablierten Ort ist kompliziert. Wir müssen jetzt andere Wege gehen, werden uns deshalb Zeit lassen zum Kennenlernen, die Stadt an vielen Stellen theatral erkunden und erobern und so gemeinsam mit dem Publikum ein paar Abenteuer bestehen. Das könnte ein Ausweg sein. Ich möchte es positiv formulieren. Ich hoffe sehr, dass die Träger des Schauspielhauses, Land und Stadt, ein Bewusstsein dafür haben, was für eine vertrackte Aufgabe es ist. Ich hoffe, dass das Haus in seiner Lage, Attraktivität und Kommunikation mit der Stadt langfristig von den vielen Baumaßnahmen profitiert. Hoffe, dass alle Mitarbeiter die Geduld aufbringen, diese Schlaufe noch mal mitzugehen, nachdem sie schon viele krumme Wege gehen mussten. Wir werden eine Ausweichbewegung vollziehen, eine Bewegung in die Stadt hinein, hoffend, dass wir dabei Spannendes finden und erfinden. Wir lernen uns durch die Umstände auf überraschende Art kennen. Das kann auch ein Vorteil sein.
k.west: Nun hat das Düsseldorfer Schauspielhaus ohnehin schon erheblichen Verlust von Identität und Funktion zu verkraften.
Schulz: Das Düsseldorfer Schauspielhaus ist auch ein Mythos, eine Aufgabe. Es ist traurig, denn nach der Instabilität der letzten Jahre – da haben viele nicht an den richtigen Stellen geschaltet – schafft es der Kollege Beelitz gerade, die Konsolidierung einzuleiten. Er wollte sie uns schenken, sozusagen. Und nun erwischt es ihn selbst noch. Seinen Aufwind hätten wir gern genutzt, um noch etwas höher zu fliegen. Der gewisse turn around, der gerade gelingt, wird durch die zeitweise Nicht-Bespielbarkeit des Schauspielhauses jäh abgebrochen. Wir brauchen jetzt neue Pläne, Glück und ein neugieriges Publikum.
k.west: Düsseldorf hat von Schirachs »Terror« erfolgreich auf dem Spielplan. Das Abstimmungsergebnis ist meistens knapp für den Angeklagten. Bei der Düsseldorf-Premiere votierten fast zwei Drittel für Freispruch. Vielleicht typisch, eine Gefühls-, keine Kopf-Entscheidung. Ist für Sie Düsseldorf nicht intellectual downgrading?
Schulz: Ich antworte dialektisch. Ich lebe noch in einer Stadt mit täglich heftigerer politischer Zerrissenheit. Andauernd gebe ich Statements zu Pegida und ihren herzlosen, hasserfüllten Aufmärschen und zur Zerrissenheit Dresdens ab. Ich würde mir insofern durchaus etwas mehr emotional upgrading, Empfindlichkeit, Empathie wünschen. Jedes Seelenregung ist mir lieber als die große Kälte. Das Stück »Terror«, als Fall wie ein antikes Drama aufgebaut, zielt darauf ab, Positionen gegeneinander zu stellen und abzuwägen. Wir werden das Stück Ende Januar auch in Dresden machen, Burghart Klaußner führt Regie, ich bin wirklich sehr gespannt, wie viele Schuldig-Stimmen wir zählen. Es gibt Kopf-, Herz- und Seelentheater und alles hat seine Berechtigung. Natürlich ist »Terror« zunächst Kopftheater. Doch, ich finde sympathisch, wenn die Düsseldorfer ihrem Herzen folgen.
k.west: Bleiben wir bei der Mentalität. Sie haben in Stuttgart mit dem Frankfurter Schüler und Schöngeist Ivan Nagel, in Basel und Hamburg mit dem souveränen Praktiker Baumbauer gearbeitet, Sie haben u.a. Schlingensief, Marthaler, Castorf, Kresnik propagiert. Was reizt Sie am fröhlich rheinischen, sorg- und sorgenlosen Düsseldorf?
Schulz: Na ja, so sorgenlos ist es nicht. Sie haben übrigens in der Aufzählung spätere Arbeitsbeziehungen zu Stemann, Nübling, Sebastian Baumgarten, Roger Vontobel, auch Jürgen Gosch oder Kriegenburg ausgelassen. Auch Kritikern ist klar, dass sich Theatersprachen verändern – auch der Begriff von Radikalität. Darüber denke ich sehr nach: Ob die Anforderung radikalen Zuspitzens überhaupt eine Anforderung ist, die im Moment in der Kunst und der Zeit ansteht. Ob es nicht eher ein Abwägen gibt. Die jüngeren Regisseure haben sicherlich eine größere Vorsichtigkeit als die alten Kresniks. Die wären heute aus der Zeit gefallen.
k.west: Was man durchaus bemerkt, wenn man deren neuere Arbeiten sieht. Schulz: Richtig. Insofern sucht man nach anderen Leuten. Natürlich versuchen wir alle auf der Bühne mit Deutlichkeit zu arbeiten. Aber es ist schwieriger als früher. Nehmen wir ein Krokodil wie Peymann, mit dem ich vor kurzem telefonierte; da kamen Sätze, bei denen ich dachte: Hey, bist Du glücklich, dass Du solche Sachen noch sagen kannst. Ich habe ihn richtig beneidet. Aber bringen uns solche Zuspitzungen weiter? Wenn ich mit Matthias Lilienthal rede oder mit Chris Dercon, befinden wir uns auf einer anderen Suche. Die Zeiten sind zu unübersichtlich für ein Theater, das behauptet, es wisse genau, wo es lang geht. Mir scheinen ehrliche Suchbewegungen in der Kunst zeitgemäßer als trotzige Behauptungen.
k.west: Und was sucht Düsseldorf?
Schulz: Ach, ich genieße sehr, dass mir der Taxifahrer, überhaupt die Leute in der Stadt und die Stadtgesellschaft mit größerer Leichtigkeit begegnen, als ich im Moment gewohnt bin. Dass sich dahinter ebenso eine Zerrissenheit verbirgt, der Antagonismus von Arm und Reich und vieles mehr, dass die Asyl-Frage sich auch hier als Lackmustest unserer Demokratie erweist, wissen wir doch. Ich glaube, dass die Probleme alle und ebenso sehr da sind. Ich freue mich aber, dass das Spielerische vielleicht größeren Wert hat, das Umspielende, Ironische, als in meinem aktuellen Kontext. In Düsseldorf ist man mit vielem und schnell verbunden, ein Gefühl von grenzenloser Durchlässigkeit. Es ist in dieser Gegend selbstverständlich, dass man schnell wegkommt und schnell wieder da ist.
k.west: Was Sie über das Spielerische sagen, teile ich. Aber wenn ich es konkret betrachte, sieht es schon anders aus. Denken wir an den großen Spieler Jürgen Gosch, der am Düsseldorfer Schauspielhaus legendäre Aufführungen gemacht hat. Die wurden hier nicht verstanden. Hat dieses Ignorieren mit dem zu tun, was Sie die Oberfläche nennen, an deren Glätte vieles abgleitet?
Schulz: Ich möchte nicht ein dreiviertel Jahr vor meinem Beginn vorauseilende Thesen zum Düsseldorfer Publikum wagen, auch wenn ich seit vielen Jahren hier ins Theater gegangen bin und eine Meinung dazu habe. Wenn Sie wüssten, was mir vorher alles über das Dresdner, Hannoveraner, Hamburger Publikum etc. erzählt wurde. Was alles gestimmt hat – und alles nicht gestimmt hat. Das Gegenteil stimmt gleichermaßen. Man konnte immer auch das Gegenteil aktivieren. Es gibt die große Sehnsucht beim Publikum, womöglich in Düsseldorf deutlicher, nach erzählten, nachvollziehbaren Geschichten. Das ist der Kernpunkt. Man kann in den Abstraktionsprozess hineingehen, wenn man die Zuschauer emotional oder über eine starke These mitnimmt. Es wird hier ein Ausprobieren sein, das eher mit jüngeren als mit älteren Stücken und Stoffen zu tun hat.
k.west: Stefan Bachmann in Köln, Anselm Weber bis 2017 in Bochum – beides Regisseure aus Ihren Hamburger Tagen –, tun sich schwer, über Standard hinauszukommen. Also die beiden Stadttheater, die am ehesten in NRW das Zeug dazu hätten. Die größte Erfinderlust entwickelt Peter Carp in Oberhausen. Wie betrachten Sie die hiesige Theaterlandschaft? Ohne Noten zu verteilen.
Schulz: Ich bin mit beiden gut befreundet, kenne Carp, kenne die Kollegen in Bonn gut. Die NRW-Landschaft ist mir sehr vertraut. Wissen Sie, das ist Ihr Steckenpferd und das Ihrer Kritiker-Kollegen, ist Ihre gute Aufgabe, die bewertende Suche nach dem ganz Besonderen, außerordentlich Innovativen, nach dem, wohin es geht. Aber es hat manchmal wenig zu tun mit der Wertigkeit eines Theaters für die Stadt. Auch der gesellschaftlichen, politischen, moralischen Wertigkeit. Das ist mir in Dresden noch viel klarer geworden, ich habe da sicher nicht jeden Tag Avantgarde gemacht, wenngleich an bestimmten Ecken Pollesch, Rimini Protokoll und andere tolle ästhetische Abenteurer auftauchten. Aber entscheidend war, dass die Stadt für sich die Nützlichkeit des Theaters erkannt hat. Sie verstanden, selber behauptet und sogar als Forderung mir zurückgegeben hat. Theater lehrt uns Differenz auszuhalten. Ich würde gern jedes Theater nach seinem gesellschaftlichen, generationsübergreifenden, reflektierenden, integrierenden Wert für die Stadt beschreiben. Das andere ist ein wenig Rosinen-Pickerei. Und beherrscht mein Denken nicht. Da habe ich eine andere Lust, mich zu positionieren. Wie immer mehr Intendanten-Kollegen auch. Eine Stadt muss ihr Theater spüren. Übrigens, niemand von uns hat die drei Regisseure in der Tasche, die wissen, wie’s geht und wo’s lang geht. Ich würde etwas Vorsicht, Zögern, um nicht zu sagen Demut erwarten. Oft habe ich das Gefühl, alle sind fertig mit dem Sprechen, bevor ein Satz überhaupt gedacht wurde.
k.west: Herr Schulz, ich hatte Ihren Vor-Vorgänger Holm gefragt, ich welchem Stadtteil er sich niederlassen wolle. Er hatte sich für Bilk entschieden. Wo richten Sie, Ihre Frau und ihr kleiner Sohn sich ein?
Schulz: Auch wenn ich weiß, dass es nicht der Trend ist, ich habe gerade eine wunderbare Familien-Wohnung am Rand von Oberkassel gemietet, in einer zentralen, aber ruhigen Umgebung, mit vielen Kitas und Schulen in der Nähe, nachdem ich auch in Flingern-Nord, in Bilk und Unterbilk, auch in Pempelfort viel besichtigt habe. Mein Sohn hat sich für den schönsten Spielplatz entschieden.
k.west: Herr Schulz, was hat Sie zum Theater geführt? Gab es ein Initial-Erlebnis?
Schulz: Ja, aber es ist leider etwas kompliziert. Kam auch ein bisschen spät. Ich komme aus einer kleinbürgerlichen Familie, die es nicht zum Theater gedrängt hat. Ich habe in der Spät-68er-Zeit studiert, Politologie und Germanistik und bin ins Theater als Hobby gegangen. Ich wollte nicht auf die Bühne, wollte nicht ans Theater. Ich war ein Zuschauer. Ich bin auch heute ein Zuschauer. Bei allem, was man tat, haben wir nach der gesellschaftlichen Relevanz gefragt. Vielleicht war dieses Bewusstsein auch zu hoch entwickelt. Ich bin extrem viel ins Theater gegangen. Es hat zwei große Einflüsse gegeben: der von mir heute mit sehr gemischten Gefühlen betrachtete Peter Stein und Ariane Mnouchkine, über die ich meine Abschlussarbeit geschrieben habe: Modernes Volkstheater als Utopie einer gesellschaftlichen Veränderung, als ein großes Fest. Ich empfand mich als schreibender und lehrender – das Theater liebender – Wissenschaftler. Theater war für mich der Bereich, wo die Dinge, die mich interessierten, nämlich Kunst, Wissenschaft, gesellschaftliches Engagement, der Umgang mit Geschichte in eins gehen. Das Modell Schaubühne und das Modell Théàtre du Soleil, beide partizipativ geprägt, waren eine große Entdeckung, wie ein Blitz für mich. In diesem Zusammenhang wollte ich mich gern sehen. Da war ich 30. Bin also nicht ganz jung zum praktischen Theater gekommen. Deshalb habe ich jetzt immer noch viel zu tun.