INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
K.WEST: Fürst Myschkin, die Hauptfigur aus Dostojewskis Roman »Der Idiot«, habe ein »offenes, kindliches Gemüt«, er sei jedem «freundlich zugeneigt, ja beinahe naiv«, schreiben sie in Ihrem Blog für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Sie überlegen, ob dieser Moral-Nerd im digitalen Zeitalter ein Außenseiter wäre wie im Roman, oder ob er sich mit Gleichgesinnten vernetzen würde. Ist Myschkin ein Ahnherr der Piraten?
WEISBAND: Es heißt immer, die Piraten seien Nerds, mit denen in der Schule keiner zu tun haben wollte, weil sie anders denken und ihrer Zeit voraus sind. Bei uns gibt es tatsächlich mehr dieser Leute als in anderen Parteien. Der Nerd erlebt gerade einen wahnsinnigen Image-Wandel. Wir sind in einer gesellschaftlichen Sackgasse angekommen; nun sind diejenigen gefragt, die außergewöhnliche Ideen haben.
K.WEST: Menschen mit kindlichen Gemütern?
WEISBAND: Die Piraten hinterfragen alles. Das macht es auch nicht einfach, Positionen und Beschlüsse durchzusetzen. Kindlich oder gar naiv ist das nicht. Auf politischer Ebene könnte man uns schon eher als naiv bezeichnen. Denn wir wollen wissen, wozu Politik gut ist, ob sie so sein muss, wie sie jetzt ist.
K.WEST: Was im abgeklärten Polit-Betrieb naiv wirkt.
WEISBAND: Eine Tageszeitung hat mich kritisiert, weil ich zu naiv sei. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Wir brauchen mehr Naivität und mehr Idealismus. Beides gibt es bei uns.
K.WEST: Die Piraten, so heißt es immer wieder, denken in Strukturen, Personen seien eher unwichtig. Das Führungspersonal wird regelmäßig ausgetauscht. Ist Ihnen Ihre mediale Präsenz da nicht unangenehm?
WEISBAND: Unangenehm ist, dass ich in den Vordergrund gerückt werde als diejenige, die die Partei macht. Wir sind ein Kollektivkonstrukt. Die Partei besteht aus tausenden Köpfen, die alle Argumente liefern. Ohne sie könnte ich nicht Politik machen. Wir sollten uns nicht so sehr auf Gesichter fokussieren und uns mehr mit Inhalten beschäftigen.
K.WEST: Auf Ihrem Facebook-Profil finden sich Fotos, die sie vor dem Weihnachtsbaum zeigen, verkleidet beim Fantasy-Rollenspiel oder als Kind. Facebook ist nicht dafür bekannt, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, für das die Piratenpartei eintritt, besonders zu schätzen. Wie geht das zusammen?
WEISBAND: Facebook ist nicht die datenschutzfreundlichste Seite. Aber das sagt der Konzern auch, in Juristendeutsch verklausuliert. Datenschutz bedeutet, dass ich nur preisgeben muss, was ich preisgeben möchte. Ich bin sehr offen. Das gehört zu meinem Lebensstil.
K.WEST: Lässt sich das von Ihrem Politikstil trennen?
WEISBAND: Ich versuche ein neues Politikerbild zu prägen, Vertrauen zurückzugewinnen. Aber es ist ein Missverständnis, wenn man mir unterstellt, ich würde dort mein ganzes Leben ausbreiten.
K.WEST: Haben Sie keine Angst, dass sie sich dadurch politisch angreifbar machen?
WEISBAND: Ich bin nicht nur Politikerin, sondern auch Mensch. Ich war immer schon sehr offen. Ich vertraue den Menschen. Warum sollte jemand Daten gegen mich verwenden?
K.WEST: Was stört Sie am Bild des Berufspolitikers?
WEISBAND: Unsere Gesellschaft, insbesondere die Presse, geht mit Fehlern von Politikern sehr unnachsichtig um. Das führt dazu, dass Politiker nichts mehr sagen, wenn sie reden. Figuren, die von Image-Beratern »gemacht« werden, vertraut man nicht. Das Andere ist, dass sich Politiker viel zu sehr davon abhängig machen, unbedingt in ihrem Amt bleiben zu müssen. Sie treffen deshalb kaum unpopuläre Entscheidungen.
K.WEST: Eine Partei, bei der zwei Minuten ausreichen, um sich als politische Geschäftsführerin zu bewerben und gewählt zu werden, wirkt auf Außenstehende begrenzt seriös.
WEISBAND: Wir arbeiten an feineren Filtermechanismen. Das Grundprinzip von durchlässiger Politik ist immer ein kluges Netzwerk. Das Grundproblem in unserem politischen System ist, dass diejenigen Gehör finden, die am lautesten schreien. Ich versuche ein System zu etablieren, bei dem die tatsächlichen Mehrheiten zu Wort kommen.
K.WEST: Wobei der lange Mehrheitsfindungsprozess verhindern könnte, dass die Piraten zu tagesaktuellen Themen öffentlichkeitswirksam Stellung beziehen. Am Tag, als Christian Wulff im Fernsehinterview sein Transparenzproblem in den Griff zu bekommen versuchte, ließen die Piraten auf ihrer Website wissen, dass sie gegen das Verbot von E-Zigaretten sind. Können Sie überhaupt etwas zu Themen sagen, die in der Partei noch nicht diskutiert worden sind?
WEISBAND: Als Bundesvorstand begebe ich mich bei jedem Interview auf dünnes Eis. Leicht ist es nur, wenn beschlossene Positionen vorliegen. Geht es darüber hinaus, dürfen wir über das sprechen, was aus unseren Prinzipien ableitbar ist. Wie weit diese Ableitung geht, liegt in unserem Ermessen. Manchmal bekommen wir dann Feuer von der Basis. Der Rest ist Privatmeinung, die, nur weil wir prominent im Rampenlicht stehen, nicht mehr wert ist als die Äußerungen anderer Mitglieder.
K.WEST: Halten Sie den Namen »Piraten« für glücklich gewählt?
WEISBAND: Der Name ist genauso gut wie jeder anderer Partei-Name.
K.WEST: Was assoziieren Sie mit Piraten?
WEISBAND: Freiheit und zivilen Ungehorsam. Mir ist aber bewusst, dass viele Menschen auch an Verbrecher denken. Letzten Endes hat der Name einen historischen Ursprung, und wir stehen zu diesen Wurzeln. Dahinter steht die Frage: Warum bin ich ein Verbrecher, wenn ich Kultur verbreite?
K.WEST: Der Name ist von einer schwedischen Anti-Copyright-Organisation abgeleitet. Wie lautet noch mal das Argument, mit dem Sie Menschen, die mit urheberrechtlich relevanten Dingen wie Musikmachen, Fotografieren oder Schreiben ihr Geld verdienen, von der Piratenpartei überzeugen wollen?
WEISBAND: Wir wollen das Urheberrecht reformieren, weil es nicht mehr zeitgemäß ist. Inhalte werden gestohlen bzw. kopiert. Das ist nicht Schuld der Piratenpartei, sondern Realität.
K.WEST: Halten Sie es für legitim, die Herabsetzung des Urheberrechts dadurch zu begründen, dass sich heute keiner mehr daran hält?
WEISBAND: Zu verhindern wäre das nur in einem Polizeistaat, in dem das Download-Verhalten der User kontrolliert wird. Wir sagen nicht, Kultur muss für alle umsonst zugänglich sein, sondern denken darüber nach, wie man den Künstlern entgegen kommen kann, damit sie mehr von den Erlösen ihrer Werke haben. Im Moment profitieren die Verwerter auf ihre Kosten. Man kann heute dank Internet ein Musikstück ohne Umwege vertreiben. Warum machen die Künstler das nicht selbst? So könnte im Internet kostengünstig Kultur angeboten werden, die dann für private Zwecke vervielfältigt werden darf.
K.WEST: Für die Verlagslandschaft bedeutet das: keine Lektoren mehr, und Debütanten müssen sich überhaupt erst mal am virtuellen Markt beweisen, bevor sie auch nur einen Cent sehen.
WEISBAND: Die Verlagsbranche leidet zurzeit, das ist mir bewusst. Denn die Menschen lesen weniger Gedrucktes. Mich persönlich macht diese Entwicklung traurig, denn ich bin Datenträgernostalgikerin. Aber sie ist nicht aufzuhalten. Wir müssen jetzt schauen, wie wir die Interessen der Autoren auf zeitgemäße Weise schützen können.
K.WEST: Was heißt das konkret?
WEISBAND: Verlage steuern öffentliche Meinung, wodurch einige wenige Autoren eine Chance bekommen, viele andere nicht. Meist geht es dabei auch weniger um Inhalte als um Autoren-Marken. Eine Plattform, auf der jeder Autor sein Buch herausbringen könnte, würde den Lesern die Möglichkeit bieten, selbst zu entscheiden, welches Buch er lesen möchte, unabhängig von teurer Werbung und Distributionsmacht. Debütanten lassen sich durch öffentliche Gelder fördern, bis wir irgendwann das bedingungslose Grundeinkommen haben.
K.WEST: Die neuen Profiteure sind dann in der Internetindustrie zu finden. Sie verdienen daran, einstmals urheberrechtlich geschützte Inhalte frei zugänglich zu machen wie beispielsweise Google es unternimmt.
WEISBAND: Ich hoffe, dass es Konkurrenz zu Google geben wird. Ich bin nicht gegen die freie Wirtschaft, ich bin gegen Monopole. Und wenn Google diese Idee hatte und konkurrenzlos ist, dann ist das ein Versäumnis anderer Firmen. Wenn wir diesen Sektor lukrativer machen, locken wir andere Betreiber.
K.WEST: Doch das Geschäftsmodell hat etwas von digitaler Hehlerei.
WEISBAND: Wobei aber nicht mehr die Kulturkonsumenten geschröpft werden. Bezahlt wird das Angebot durch Werbung. Das scheint mir fairer zu sein, als wenn Konsumenten traditionelle Verwerter mitbezahlen müssen.
K.WEST: In Ihrer Partei wird auch über eine Kulturflatrate diskutiert. Was halten Sie davon?
WEISBAND: Ich sehe darin keine Lösung. Die Ausschüttung des Geldes müsste sich nach den Download-Zahlen richten. An die kommen wir aber nur, wenn wir das Verhalten der Nutzer überwachen. Das möchte ich nicht. Ich favorisiere ein Modell der direkten Bezahlung. Wenn die Summe, die für das Herunterladen von Filmen, Musik oder Büchern verlangt wird, moderat ist, wird auch gezahlt. Die Erlöse kämen dann allein den Künstlern zugute.
K.WEST: Ist das Anti-Durchblickertum, das Eingeständnis, nicht auf alles eine Antwort zu haben, eines der Erfolgsgeheimnisse der Piratenpartei?
WEISBAND: Der Erfolg unserer Partei gründet sich auf Ehrlichkeit. Wenn wir noch nicht den Durchblick haben, benennen wir unseren Arbeitsstand. Damit können die Bürger umgehen. Wir sagen offen: Wir wissen es nicht, kommt zu uns und bringt uns euer Fachwissen. Nur so können nachhaltige Lösungen entstehen.
K.WEST: Die Schriftstellerin Juli Zeh sprach in diesem Zusammenhang von »professionellem Dilettantismus«, was sie als Kompliment verstanden wissen wollte.
WEISBAND: Da steckt ja auch drin, dass man eine Sache aus Liebhaberei betreibt. Wir lieben es, die Gesellschaft zu verändern. Wir sind keine Profis. Das heißt, wir müssen uns Kompetenz einkaufen. Das heißt aber eben auch, Mängel zuzugeben.
K.WEST: Neben dem Thema Bürgerrechte machen die Piraten mit Bildung, Drogenpolitik oder der Diskussion um einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr auf sich aufmerksam. Klingt ein bisschen nach Studenten-Lobby.
WEISBAND: Studenten setzen auf Wissen, und wir sind eine Partei der Wissensgesellschaft und des Informationsflusses. Da ist es ganz natürlich, dass Akademiker unsere Zielgruppe sind. Wir stehen aber auch für Wissensaustausch. Jeder Mensch sollte in die Lage versetzt werden, sich zu bilden. Dafür ist Solidarität zentral. Hier kommt dann der fahrscheinlose Nahverkehr ins Spiel.
K.WEST: Im Zusammenhang mit dem von Ihnen geforderten bedingungslosen Grundeinkommen heißt es, dass diese Grundsicherung es den Menschen ermöglichen könnte, beispielsweise frei zugängliche Software weiter zu entwickeln. Wo bleiben diejenigen, die nicht zur informationellen Elite gehören?
WEISBAND: Ich glaube, dass jeder Mensch für die Gesellschaft produktiv sein kann, ob als Programmierer, als Altenpfleger oder als Mutter. Das Aufziehen von Kindern ist nicht weniger wert als das, was Informatiker machen.
K.WEST: Es würde vermutlich zu kurz greifen, wollte man das Erfolgsgeheimnis der Piratenpartei allein durch das technische Know-how erklären. Was hält das digitale Weltbild zusammen: der Glauben an das emanzipatorische Potenzial der neuen Informationstechnologien?
WEISBAND: Wir glauben an das emanzipatorische Potenzial des Menschen, daran, dass jeder Mensch mehr Verantwortung tragen kann, als es zurzeit der Fall ist. Wir wollen die Leute ermutigen, sich einzubringen, sich zu bilden, zu informieren und zu vernetzen. Das Internet bietet diese Möglichkeiten.