TEXT: STEFANIE STADEL
Claude Monet, na klar. Wieder und wieder hat er ihre Fassade abgetupft. Vorsprünge und Vertiefungen mit dem Pinsel ertastet und abgeformt mit Farben, die er mal als dicke Paste, mal leicht und flüssig auf die Leinwand brachte. Nicht müde wurde er, das Spiel von Licht und Schatten auf die vielfach durchbrochenen Mauern zu registrieren. Der Wechsel von Tages- und Jahreszeit bot ihm immerfort neue Anlässe, sich der Kathedrale von Rouen zuzuwenden. Flüchtige Eindrücke, vorübergehende Stimmungen auf der Leinwand zu fixieren. Über dreißig Ansichten zählt man im Werk des Franzosen. Die Serie ist so groß und schön, so wichtig und wegweisend, dass heute noch jedermann immer zuerst an Monet denkt, wenn es um gemalte Kathedralen geht.
Zu Recht? Mit dieser Frage im Kopf könnte man seinen Ausstellungsrundgang durch die dritte Etage des Kölner Wallraf-Richartz-Museum starten. Vorbei an rund 180 Gemälden, Grafiken, Fotos, Skulpturen – von Caspar David Friedrich über Impressionisten, Expressionisten, Feininger und Picasso zu Warhol, Christo, Gursky. Und am Ende des Weges würde man wohl sagen: »Ja, Monet hat die Ehre verdient«. Dieser Ansicht ist offenbar auch Dagmar Kronenberger-Hüffer, die Kuratorin der Schau, deren gelungener Überblick sich anschickt, die herausragende Rolle von Monets Kirchenbildern im kunst- und kulturhistorischen Kontext noch zu untermauern. Überspitzt könnte man diese Ausstellung in zwei Teile teilen: Der erste spielt in der Zeit vor Monet, und der andere beschreibt das Danach. Dabei bemühen sich beide, ihr eher heterogenes Material im zeit- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu verankern, was dem Unternehmen sehr zugutekommt.
DIE NEUE GOTIK-BEGEISTERUNG
Auch mit Blick auf Monet. Die Ausstellung kann immerhin vier seiner über dreißig Rouen-Kathedralen nach Köln holen, wo sie nicht einfach nur so bewundert, sondern mit Elan hinterfragt werden: Warum hat sich der Maler gerade diesem Motiv mit solcher Leidenschaft und Beharrlichkeit zugewandt? Und aus welchem Grund erregte er mit den malerischen Resultaten seiner Passion schon unter den Zeitgenossen so große Aufmerksamkeit? Hatte der Maler vergleichbare Prinzipien doch schon an ganz anderen Motiven durchexerziert – man denke an seine bei wechselndem Licht in Serie gemalten Heuhaufen und Pappeln, die seinerzeit viel weniger Wirbel verursachten.
Ein Grund für Monets Motivwahl und Ausdauer könnte in der neuen Gotik-Begeisterung liegen, deren Anfänge lange vor dem Impressionismus in Frankreich, aber auch in Deutschland auszumachen sind. Hier wurde sie einst angeheizt durch Johann Wolfgang Goethe und seinen Aufsatz »Von Deutscher Baukunst«, in dem der Dichter den Erbauer des Straßburger Münsters, Erwin von Steinbach, als Genie und die Gotik fälschlicher Weise als deutsche Erfindung feiert. »Das ist deutsche Baukunst«, so seine Worte. »Da der Italiener sich keiner eigenen rühmen darf, viel weniger der Franzos.« In Frankreich war es Victor Hugo, der die Wiederentdeckung mittelalterlicher Baukunst beflügelte – ganz besonders durch seinen 1831 veröffentlichten Roman »Der Glöckner von Notre-Dame«.
Um diese Zeit, im frühen 19. Jahrhundert, setzt die chronologisch gegliederte Schau ein – mit Künstlern wie Karl Friedrich Schinkel, Caspar David Friedrich, Carl Gustav Carus. Nicht früher, denn Renaissance und Barock scherten sich wenig um das mittelalterliche Erbe, das vor allem in Form stattlicher Gotteshäuser den Kern vieler Städte prägte. Erst die Romantik und ihre Rückbesinnung auf gute, alte, glaubensechte Zeiten brachte die Wende und eine neue Sicht auf jenes Kulturgut, das seit Goethe auch den nationalen Stolz anregte – in Deutschland wie in Frankreich, denn beide beanspruchten den Baustil für sich.
Stärker als solche nationale Gedanken kommt in den frühen Stücken der Schau aber doch wohl Religiöses zum Tragen. Etwa in Schinkels 1810 entstandener Federlithografie »Gotische Kirche hinter Bäumen«, die den Kirchenbau zu großen Teilen hinter wucherndem Blattwerk verborgen zeigt – Architektur und Natur eins werden lässt im Rhythmus von Werden und Vergehen. Oder in Caspar David Friedrichs 1818 gemalter »Gartenlaube«, wo Mann und Frau im Licht der aufgehenden Sonne beisammen sind und hinaus auf einen alten Kirchturm schauen. Nicht allzu fern liegen hier Gedanken an das Jenseits und die Erlösung.
Friedrichs Paar blickte auf die Greifswalder Nikolai-Kirche. In Köln schaut man auf den Dom. Besonders gut zu sehen ist er durch die bodentiefen Eck-Fenster oben im dritten Stock des Museums. Rund um die schöne Aussicht gruppieren sich dort diverse, meist grafische Ansichten der hiesigen Kathedrale. Lange nur mit Stümpfen, doch ab 1880 stolz mit ihren zwei gotischen Türmen. Drei Jahre zuvor erst hatte Rouen seiner gotischen Kathedrale gusseiserne Turmspitzen aufgesetzt und sie auf diese Weise zum seinerzeit höchsten Gebäude der Welt aufgestockt: 150 Meter. Köln nun legte noch einmal sieben drauf und stellte so den französischen Spitzenreiter in den Schatten. Dass dahinter mehr steckte als rein architektonische Überlegungen, liegt auf der Hand.
Und schon ist Monet am Zuge. Anfang der 1890er Jahre, ein gutes Jahrzehnt nach der Vollendung der Kölner Türme also und in jenen Zeiten, die Identität und Nationalstolz hochhielten, suchte er sich just die übertrumpfte Kathedrale von Rouen als Bildmotiv aus und ließ sich bald, wie es scheint, ganz von ihr vereinnahmen. »Ich hatte eine Nacht voller Albträume«, schrieb er damals. »Die Kathedrale stürzte auf mich herab, sie erschien entweder blau oder rosa oder gelb.«
Hoffnung, Religion, Erlösung, das Himmlische Jerusalem – all solche Assoziationen, die seinen Vorgängern noch so nahe lagen, bei Monet verlieren sie an Gewicht. Wie der Bau selbst, den der Maler nach impressionistischer Manier der Entmaterialisierung entgegentreibt – in den allerschönsten, allerdings oft gegenstandsfremden Farben. Selbst der Gedanke des National-Monuments scheint sich zu verflüchtigen. Daher rührte wohl auch die Verärgerung des konservativen Publikums, das Monets neue, unpräten-tiöse, aufs Malerische konzentrierte Sicht des ehrwürdigen Gotteshauses für unangebracht hielt. Und die Begeisterung fortschrittlich Gesinnter, die das Neue in Monets Sichtweise erkannten.
Zeitgenosse Alfred Sisley sollte dem erfolgreichen Kollegen bald folgen und sich die Kirche Notre-Dame in Moret-sur-Loing vornehmen. Die Ergebnisse seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem sakralen Bauwerk sind allerdings ungleich konventioneller und lassen in Köln das Revolutionäre in Monets Interpretationen nur noch klarer hervortreten.
Nach Monet werden die religiöse Bedeutung und ideologischen Hintergedanken mit Blick auf die Kathedrale immer mehr in den Hintergrund treten – der Katalog spricht in diesem Zusammenhang von »Sinnentleerung«. Zuerst das Raumerlebnis zählt zum Beispiel bei Robert Delaunay, der beim Blick in den Bogengang von Saint-Séverin vor allem die vielfarbigen Effekte einfängt, die das durch bunte Fenster fallende Licht hervorruft. Oder bei Pablo Picasso, wenn er die Architektur von Notre-Dame in Paris ganz in der kubistisch zersplitternden Stadtlandschaft aufgehen lässt.
In Richtung Gegenwart wird der Umgang mit dem Motiv wie zu erwarten zunehmend unübersichtlich. Jeder nähert sich dem hehren Gegenstand auf seine eigene Weise: Warhol vervielfältigt ihn im kunterbunten Siebdruck, Christo will die Kathedrale einpacken, und Andreas Gursky erobert die mittelalterliche Architektur mit digitaler Technik. Per Computer mischt und montiert der Künstler seine Einzelfotos zum irrealen Riesenbild von über drei Metern Länge. Viel zu nah aneinander lässt er die großen gotischen Fenster hier rücken. Gänzlich bewusst werden einem die unwirklichen Dimensionen der Architektur erst, wenn man die winzigen Menschlein am Boden erblickt. Die Kathedrale ist nicht mehr sie selbst. Sie bietet nur noch die frei formbaren Einzelteile für andere Ansichten – stellt den Stoff für neue Geschichten bereit.
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln. Bis 18. Januar 2015. Tel.: 0221 / 221 211 19. www.museenkoeln.de