»Es gibt nichts Ganzeres als ein zerbrochenes Herz.« So steht es im Programmheft zur Bochumer »Schändung«. Die Intensität, die der mystische Satz des Rabbiners Nachman von Bratslav beinhaltet, wäre der Aufführung zu wünschen gewesen. Mit dem rabbinischen Motto und dem über der Bühne angebrachten Palindrom AMOR – ROMA räumt Elmar Goerden für das grausamste aller Shakespeare-Dramen, »Titus Andronicus«, dem Botho Strauß seine Fassung gegeben hat, den Vorrang der Schicksalsmacht (Liebe) über das Machtgebilde (Römisches Reich) ein. Eine Behauptung, die in den drei Stunden jedoch wenig Widerhall findet. Die bleiben, eingerichtet in einer dezent gepflegten Moderne, eigentümlich matt. Als hätte sich die Regie, ums Ungeheuerliche verlegen, eine Vermeidungsstrategie zurecht gelegt. Goerden stellt das Stück artifiziell (mit einer komisch klingelnden Zwischenmusik) vor und aus, findet zwar eine Form, aber keinen adäquaten Ausdruck. Hier geht eine Welt zu Grunde – ein politisches System und das moralische Gefüge. Das Unheil beginnt, als der bewährte General Titus, den Bruno Ganz gravitätisch, altväterlich, ehrpusselig, pastoral und ehern wie ein Denkmal spielt, nach dem Sieg über die Goten heimkehrt, die Kaiserwürde ablehnt, sie dem Sohn des toten Caesaren, Saturnin, anträgt und dieser die gefangene, gedemütigte Goten-Königin Tamora (Ulli Maier) zu seiner Kaiserin kürt. Titus’ Glauben an die Ordnungsmacht Staat, an Maß und Wert wird irre angesichts einer Ur-Gewalt des Bösen, eines Staatsterrors, für den Vergewaltigung und Verstümmelung seiner Tochter Lavinia (Louisa Stroux) durch Tamoras Söhne stehen. Die »Plötzlichkeit« durchdringt die »Formen« und löst sie auf – so Botho Strauß, der eine zweite Handlungsebene einzieht, indem eine Gegenwartsgesellschaft sich Shakespeares Spiel aneignet und in reflektierenden Szenen die Blutbilder für sich zu klären sucht. Die Kunst bestände darin, die Trennung zwischen dem antiken Rom und dem Heute einer indifferenten Society zum Verschwinden zu bringen und doch spürbar bleiben zu lassen, so dass es selbstverständlich erschiene, dass und wie sich die Greuel der Vorväter auf die Nachgeborenen übertragen, die in einer privilegierten Sicherheitszone, der »terra secura« leben. Das aber misslingt in Bochum. Es gibt kein Irritationsverhältnis. Shakespeare und Strauß kommunizieren nicht miteinander. AWI
Maß für Unmaß
01. Mai. 2006