Künstliche Intelligenzen heißen selten Karl-Heinz. Sondern »Data«, wie der Android aus »Star Trek« oder »HAL«, der Bordcomputer aus Kubricks »2001: A Space Odyssee«, also eher cool und am besten in Großbuchstaben. Auf diese Tradition verweist auch Raphaela Edelbauer in ihrem zweiten Roman über eine künstliche Intelligenz mit dem Namen »DAVE«. Die Zukunft, in der ihre Geschichte spielt, ist keine gute. Da die äußere Welt durch katastrophale Vorkommnisse vorgeblich unbewohnbar ist, leben die Menschen in Klassen unterteilt in einem riesigen, autarken Gebäudekomplex, in dem sich auch »DAVE« befindet. Eine künstliche Intelligenz, deren Daten 3500 Quadratmeter große Serverhallen füllen. »DAVE« wächst ständig – befeuert von den »SCRIPTs«, die von Arbeiter*innen geschrieben und verfeinert werden, um die elektronische Seele immer mehr zu perfektionieren.
Der junge Programmierer Syz ist einer von diesen Bildschirmarbeitern. Außer Essen und Schlafen bleibt wenig Abwechslung. Der Störfall, der später das Gebäude erschüttert und die Temperaturen der Serverfarmen extrem nach oben treibt, ist nur der Beginn von Ereignissen, die ihn aus dem Trott reißen. Er wird auserwählt, damit »DAVE« endgültig zu einer Persönlichkeit weiterentwickelt werden kann. Um zu einem eigenen Bewusstsein zu gelangen, soll die KI von einem echten Menschen – Syz – mit dessen Erinnerungen und Emotionen ausgestattet werden. Durch die so neu gewonnen Privilegien lernt Syz nicht nur unbekannte Bereiche des Komplexes kennen, sondern beginnt auch, in der Vergangenheit von »DAVE« zu forschen.
Raphaela Edelbauer wurde 1990 in Wien geboren, ihr Debütroman »Das flüssige Land« schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. In einem Interview mit Denis Scheck bekannte sie einmal, dass sie bereits lange an »DAVE« gearbeitet und das Manuskript drei Mal umgeschrieben habe, um eine angemessene Form für diesen Stoff zu finden. Herausgekommen ist ein komplexer, in sich weit verzweigter Text mit Verweisen auf wissenschaftliche und philosophische Theorien. Manchmal verliert man etwas die Orientierung, wenn Edelbauer nicht nur zwischen den Erzähl- und Zeitsträngen Gegenwart und Zukunft, sondern auch munter zwischen der Realität, Spiegeluniversen und digitalen Simulationen hin- und herspringt.
Diese Orientierungslosigkeit überträgt sich teils auch auf den Ich-Erzähler Syz: Bauarbeiter tauchen auf und rücken dem Gebäude mit Hämmern und Meißeln zu Leibe – teils werden Fenster nur um einige Zentimeter versetzt, an anderen Stellen befinden sich innerhalb kürzester Zeit Wände statt Türen. Die analoge Entsprechung eines System-Updates, das die Strukturen verändert und alles auf den Kopf stellt. »DAVE« ist eine herausfordernde Lektüre, die teils einige Längen hat, aber die Handlung immer wieder in neue Möglichkeitsräume schubst: Als Syz erstmals den Architekten Mandelbrot trifft, der ein »Lustiges Taschenbuch« liest, begrüßt ihn dieser mit den Worten: »Manchmal kennt man sich« – aus der Zukunft.
Raphaela Edelbauer: »DAVE«, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2021, 432 Seiten, 25 Euro
Lesung und Gespräch im Rahmen des Leseclubfestivals am 23. April 2021 in der Alten Feuerwache Köln