TEXT: SVENJA KLAUCKE
Es war während der documenta 1992, als der russische Installationskünstler Ilya Kabakov und seine Frau Emilia im Westen schlagartig bekannt wurden: In »The Toilet«, in die Architektur eines öffentlichen Pissoirs, hatten sie die kärgliche Wohnung einer Sowjet-Familie eingebaut. Ein Wohnklo als Metapher für die Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion – dieser einfache Schlüssel ist überhaupt der Schlüssel zum Verständnis des biografisch geprägten Gesamtwerks Ilya Kabakovs. Der gelernte Grafiker, 1933 in der Ukraine geboren, arbeitete als Kinderbuch-Illustrator und gehörte seit den 60ern zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten, die wegen der herrschenden Kunst-Doktrin eher im Verborgenen wirkten und, wie Kabakov selbst, in Kellerräumen und Dachstuben arbeiteten. Bezugspunkt von Kabakovs Arbeiten ist bis heute das Leiden am sowjetischen Alltag, an den bedrückenden Lebensumständen, den sozialen und mentalen Verwüstungen der bolschewistischen Ära.
Eine Retrospektive der jüngeren Werke zeigt jetzt die Ausstellung »Ilya und Emilia Kabakov. Die Architekturprojekte« der Kunsthalle Bielefeld, mit rund 400 Zeichnungen, Skizzen, Fotos, Texten und vierzig Modellen. 1987 übersiedelten die Kabakovs nach New York; seit Ende der 90er tendieren die Entwürfe des Künstlers, die unter Mitwirkung seiner Frau Emilia, ehemals Pianistin und Pädagogin, entstehen, immer mehr ins Architektonische. Wie die Modelle der beiden – unverwirklichten – Hauptwerke, die im Zentrum der Ausstellung stehen: im ersten Stock der Kunsthalle das »Denkmal für eine verlorene Zivilisation«, eine Art Museum des sowjetischen Totalitarismus als Mahnmal und Warnmal. Und im zweiten Stock die monumentale Anlage »Die Utopischen Stadt«, ein Plan zur Umwandlung der Kokerei Zollverein in Essen. Beides sind »Totalinstallationen«, wie die Kabakovs formulieren: kleinteilig zusammengesetzt aus unzähligen Gruppen von Rauminstallationen.
Wie etwa der »Palast der Projekte«, ein Bestandteil der »Utopischen Stadt«, die 1999 auf Zollverein errichtet wurde. In einem schneckenförmigen Gewindebau aus Holzrahmen, bespannt mit lichttransparenter weißer Folie, kann der Besucher 65 Projekte studieren, gedacht zur »Verbesserung der Welt und Besserung des Menschen«. Etwa den Plan einer riesigen Drahthaube mit Lampen, die nachts eine ganze Region beleuchten würde. Oder eine Läuterungsübung, zu der man Engelsschwingen anschnallt.
Ohne die ausführlichen Erläuterungen Ilya Kabakovs im umfangreichen Katalog sind viele Exponate nicht leicht zu verstehen. Sie wirken zunächst wie eine seltsame Welt aus zwei Sphären. Da gibt es den Staat der Albträume und die Stadt der Träume. Menschliche Stubenfliegen und Engelsflügel. Wohnklo und Weltraum. Unterirdische Gehäuse, Schächte, Gräben und Gräber. Und Vogelschauen von Brücken, Bergen, Himmelsleitern. Am besten liest man die Bauten als metaphorische Räume, erweitert um eine poetische Dimension mit eigentümlich satirisch-sarkastischen oder pathetischen Zügen.
Denn Kabakov ist weniger Künstler-Architekt, als ein kosmonautischer Archivar (der etwa Sputnik-Museen erdenkt), vor allem aber ein poetischer Buchhalter seines Leben, der Erinnerungsräume bestückt und Erzählräume baut, Gedankenräumen für die Flucht- und Fliehkräfte der Fantasie und letztlich auch Erziehungsräume. Zur »Behandlung mit Erinnerungen« etwa, so ein Werktitel, sind zahllose Studierzimmer, Lesesäle, Hörsäle, Podien in die beiden zentralen Großarchitekturmodelle eingebaut.
Entwürfe zwischen Keller und Kosmos: Das »Denkmal für eine verlorene Zivilisation«, unterirdisch geplant auf einer Fläche von 60 mal 80 Metern, besteht aus endlos gereihten oder ineinander verschachtelten Korridoren, Kammern, Raumfluchten, etwa das »Irrenhaus« mit seinen »Patientenzimmern«. Es sind Archiv-Labyrinthe, zur Dokumentation von Kabakovs zuweilen skurril fiktionalisiertem Leben in der Welt kommunistischer Ideologie oder zermürbender Bürokratie.
Die Fluchten in Ideenhimmel jenseits von Enge und Kontrolle findet man dann in der »Utopischen Stadt«. Verkörpert etwa in Form kolossal großer, gebogener Antennen-Gerüste. Oder als weit in außerirdische (Denk-)Räume ragende Spiraltürme, die in ihrer dynamischen Wucht an Riesenteleskope erinnern, an Tatlins Türme und an archaische Kultbauten. Sie gehören zum »Zentrum der kosmischen Energie«, das wie eine futuristische Sternwarte aussieht. Und von Kabakov mit esoterischen Ideen aufgeladen wird.
Überaus faszinierend sind die Pläne zu drei Theatern, unterzubringen in den gigantischen Kühltürmen der Kokerei. Gebaut sind diese Theater wie Brunnenschächte, mit ringförmigen Ebenen oder Rängen. Gewidmet sind sie den »großen Männern der Weltkultur«: Tschaikowsky, Wagner und Dante. In der Performance-Installation der »Vulkan Oper« sollen aus Wandfächern Glockenspielfiguren hervorfahren, zu Wagners »Ring«-Musik. In der »Vertikalen Oper« könnte man spiralförmig nach oben steigen, durch verschiedene »Himmel« mit Karussell-Figurenspielen. Was zugleich Kreise der Hölle sind: Revolution, Wiederaufbau, Blüte der Stalinzeit und Stagnation heißen die mechanischen Ballette. Am Ende auf einem leeren, staubigen Dachboden angekommen, würde der Besucher dieser russischen Tragödie »die traurige Musik Tschaikowskys« hören. Das »Dante Theater« schließlich stellt die Zuschauer zwischen Paradies- und Höllen-Lichtinszenierungen, über und unter sich, in eine Zwischenzone: »Auf unsere Erde, den Läuterungsberg«.
Pädagogische Architektur. Im »Palast der Projekte« verbirgt sich sogar eine Ideologie der Projekte-Arbeit, die darin besteht, dass sie »die einzige Art« sei, »ein sinnerfülltes Leben zu führen«: nämlich »sich darzustellen, sich einen Namen zu machen.« Erst dann besitze der Mensch »das wahre Sein«. Während die Totalinstallationen der Kabakovs womöglich den Keim totalitärer Mentalität besitzen. Davon abgesehen hinterlässt die ausgezeichnet konzipierte Ausstellung mit ihren oft eigentümlich reizvollen Zeichnungen zwiespältige Eindrücke. So finden sich auch reichlich überdimensionierte Entwürfe zu Memorials oder Skulpturen, die enorm plump wirken oder banale Allegorien noch überstrapazieren. Das größte Problem ist aber, dass die Arbeiten stets von Inszenierungen der Vergangenheit leben und auch die Zukunftsfiktionen aus ihnen resultieren. Man bewegt sich stets jenseits der Gegenwart. Kurz: Das Werk der Kabakovs bezieht sich zu eng auf ein Thema, das nicht länger existiert.
Und so zögert man nach dem Besuch dieser großen, ungewöhnlichen Schau, die nach Bielefeld ins Kunsthaus Zug und die Londoner Albion Gallery wandert, das Künstlerpaar in die russische Tradition utopischen Denkens einzuordnen. Zwar erinnert ihre überbordende Produktivität an die der Utopisten des Zaren- und Sowjetreichs, die vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts die die Kluft zwischen elender Realität und enormer Potenz wie einen fantastischen Ideenhimmel überwölbte. Aber die Kabakovs wären sonderbar späte, zu späte Nachkommen dieser Ideenwelt. Selbst wenn ihre Schneckenhaus-Bauten genau darauf anspielen, deren Spiraltreppen den Gedanken des Weiter-Voran, des Höher-Hinauf verfolgen. Aber letztlich ist es im Fall der Kabakov-Kunst doch eher so wie mit dem Ideenhorizont ihres kleinen, originellen Projekts »Die Toilette auf dem Berg«, das als Zeichnung in der Schau präsent ist: Eines der Plumpsklohäuschen, die man zu Sowjetzeiten in Moskauer Hinterhöfen hatte, stellen die Künstler an die Steilkante einer Bergspitze. Ein Meditationskämmerchen in wohltuender Abgeschiedenheit und »mit dem Blick von einer ›hohen Warte‹ auf die Welt«. Eine humorvolle Imagination befreiender Schwerelosigkeit, die einen mehr beflügelt als alle Engelsschwingen.
Bis 14. November 2004. Tel.: 0521/3299950-0