Gut dreieinhalb Jahre ist es her, da ließ Marcus Lobbes in Wuppertal während seiner Adaption von William Gaddis’ Roman "JR" das Bühnenbild schrittweise abbauen. Am Ende gingen die Blicke des auf der Bühne sitzenden Publikums in die Leere des Zuschauerraums im Opernhaus.
Ein gespenstisches Bild, das sich als bitterer Kommentar auf die Situation des städtischen Schauspiels entschlüsseln ließ. Intendant Christian von Treskow musste das Haus zum Ende der damaligen Spielzeit verlassen. Fortan sollte das Schauspiel nur noch im Theater am Engelsgarten, der kleinen, neu erbauten Spielstätte, produzieren. Leere kommunale Kassen und politische Fehlentscheidungen hatten die Kunst in die Knie gezwungen. Mittlerweile ist auch Susanne Abbrederis, die weitgehend glücklose Nachfolgerin von Treskow, nicht mehr in Wuppertal. Ihr Vertrag wurde nach drei Jahren vorzeitig aufgelöst. Nun leitet mit dem Schauspieler Thomas Braus ein langjähriges Ensemblemitglied das Haus. Mit ihm ist auch Marcus Lobbes zurück. Zur Eröffnung der Intendanz hat er Shakespeares "Sturm" inszeniert – neuerlich im Opernhaus.
Wer damals "JR" erlebt hat, erinnert sich vermutlich wieder an die szenische Demontage. Diesmal sitzt das Publikum zwar wieder, wie üblich, im Saal. Aber dafür ist die riesige Bühne leer. Nur im Orchestergraben stehen ein paar Tische aufgereiht, auf denen neben Wasserflaschen auch Perücken Probenatmosphäre verbreiten.
Eine kleine Gruppe von Menschen findet sich zusammen, um sich das Theater zurückzuerobern. Also steigt einer von ihnen die paar Stufen zur Bühne hoch und beginnt, die Geschichte von Prospero, dem ehemaligen Herzog von Mailand, zu erzählen. Während dessen Interpret Stefan Walz von Sehnsüchten und Intrigen, einem Komplott und glücklicher Rettung spricht, bringt Thomas Braus immer mehr Requisiten auf die sich füllende Bühne. Auf den Abbau folgt Neubeginn. Die Kunst bekommt noch mal Gelegenheit, sich in einer Welt, die vom Geld regiert wird, zu beweisen. Dafür ist das Stück wie geschaffen.
Es liegt nahe, Shakespeares Komödie als Allegorie aufs Theater zu lesen und zu inszenieren. Schließlich gibt Prospero auf seiner Insel den Kulissenzauberer, der sich mit Donner und Dramatik Gerechtigkeit verschafft und zugleich seine Tochter strategisch günstig verheiratet. Hier verwandelt er sich demnach in einen Theaterregisseur, der die anderen antreibt und überwacht, der sie zum Spielen ermutigt und in die richtigen Bahnen lenkt. Braus und die anderen, die jeweils mehrere Rollen übernehmen, stürzen sich mit kindlichem Spaß am Spiel und Verkleiden in den "Sturm" und geben sich dem Zauber der Bühne hin, um ihn triumphieren zu lassen.
Auch die Figuren in Thomas Melles "Bilder von uns" spielen Rollen. Der mächtige Medienmanager Jesko (erneut von Stefan Walz verkörpert) und seine einstigen Schulfreunde Malte und Johannes haben mit ihrer Jugend abgeschlossen. Was einst an ihrer Schule, einem katholischen Gymnasium und Internat passiert ist, hat sich in ihrem Inneren verschlossen. Doch ein Foto, das ein Unbekannter Jesko auf sein Smartphone schickt, bringt das Abgelegte nach oben. Von diesem Moment an ist ihr Leben ein Spiel, das sein Zentrum und seinen Sinn verloren hat. Melles Stück greift die Missbrauchsfälle am Bonner Aloisiuskolleg auf und geht doch weit über den konkreten Fall hinaus. Es ist eine komplexe Reflexion über das menschliche Erinnern und die Lügen, die wir uns selbst erz.hlen. Die existentiellen Fragen übersetzt Regisseur Henri Hüster gemeinsam mit der Choreografin Sylvana Seddig (im Theater am Engelsgarten) in extrem stilisierte Szenen und Theaterbilder, die von antiker Bildhauerkunst ebenso wie von den Gemälden Francis Bacons geprägt sind. Schönheit und Schmerz verbinden sich – befreiend – in einem Theaterritual. Die Erkenntnis, dass wir keine Kontrolle über unser Leben haben, verliert ihren Schrecken.