MARKT UND MARKEN
»Des Kaisers neue Kleider« in Köln
Nicht die Befriedigung unserer Bedürfnisse macht den Konsum so überaus lustvoll, sondern die Melancholie, die der Wunscherfüllung folgt. Sie lässt uns sofort wieder die Einkaufsalleen rauf und runter traben, mit Tüten und Taschen behängt, auf der Suche nach neuen Dingen, die morgen schon wieder alt sind. »Wir sind aus der Mode!« – lautet die konsumbürgerliche Horrorvorstellung, die in Schorsch Kameruns Version von »Des Kaisers neue Kleider« Lady Silver, die Stylistin des Kaisers, um den Verstand und die Handlung in Gang bringt.
Auf dem kaiserlichen Hügel thront im Hintergrund und doch über seinen Untertanen der eitle Monarch nebst großem Spiegel, der ihm vor Augen führt, dass selbst die schönsten Klamotten schnell von gestern sind. In »Klein-China« nähen sich die chinesischen Schneiderinnen die Finger wund, damit im Reich kein Kind »uncool« herumlaufen muss. Ab und an blinkt die hoheitliche Treppe zur Showtime, dann lassen die schlecht bezahlten Damen die Hände ruhen und schwingen als Staatsballett die Beine. Derweil ein unterbelichteter Gangsta-Rapper mit Cowboystiefeln an Mamas Rockzipfel durch die Szene stolziert und Marken zu Markte trägt: In überdeutlichen Lettern ist seinen Klamotten aufgedruckt, welche Firma sie gefertigt hat.
Das ist die angezogene Variante von Kameruns Kritik der Wunsch-ökonomie, die er aus Andersen Märchen herausliest. Und die entblößte? »Dreimal schwarzer Kater, so heißt unser Theater. Die allerneuste Mode, Versprechen als Methode« singt der Weber »Onkel Schmuh« und zieht den Kaiser vorlagengetreu bis auf die Unterhose aus. So präpariert Kamerun mit seinem Märchenspektakel über ›Das Versprechen‹« das Prinzip heraus, nach dem unsere schöne Einkaufswelt funktioniert. Die Kraft des Konsums ist sein Identitätsversprechen. Wir müssen nur daran glauben. Eine Einsicht, die multimedial als trashig schillernde Revue mit Flitter und Lametta, reichlich zusammengefrickelter elektronischer Musik, nachdrücklichen Gesangseinlagen und einem Ensemble in die Halle Kalk gezaubert wird, das sichtlich Spaß an der Sache hat. Nicht märchenhaft besinnlich, noch sagenhaft moralisch, aber genau das richtige Stück für die Weihnachtszeit. Auch für Kinder? Aber ja. | ANK
Halle Kalk, Auff. im gesamten Dez. 2010, außer 3./4., 9./10., 17./18., 24. und 28.12.); www.schauspielkoeln.de
SOZIALAUSGLEICH
Kästners »Pünktchen und Anton« in Düsseldorf
Mit einem »Donnerwetter« geht’s los. Der da so staunt, heißt »Zeigefinger«, fuchtelt schon mal mit demselben verlängerten handlichen Werkzeug und ist bei Philipp Grimm ein charming boy, der Kästners pädagogische Maßnahme, die seine Moral für Kinder nie zu knapp enthält, auf Unterhaltungsformat bringt. Das Düsseldorfer Schauspielhaus schafft den Sozialausgleich. Denn die Kluft zwischen Arm und Reich oder, sagen wir mal, Königs- und Oberbilker Allee, wird in Gestalt von Pünktchen und Anton gewissermaßen zur persönlichen Schicksalsfrage.
In der Fabrikantenvilla Pogge, wo ein Swarovski-Lüster und eine Form ins Licht bringende Lampe für den Anschein von Wohlstand sorgen, hat die Tochter eine Mutter, die Shoppen geht und konsumiert statt familiäre Nestwärme herzustellen, einen zu geschäftigen Papa und eine verklemmt gehemmte Gouvernante, die ihr törichtes Herz an einen Gauner hängt, der die Verliebtheit schändlich ausnutzt. Auf der Schattenseite, wo freilich emotional betrachtet die Sonne scheint, muss Anton das kranke »Mamachen« hegen und pflegen und nebenbei die Schularbeit erledigen.
Das bringt Pünktchen nicht nur dazu, nächstens Streichhölzer zu verkaufen, sondern auch auf die Palme bzw. Balustrade, die in halbe Bühnenhöhe zur Barrikade wird, auf der sie revolutionär »Braten für alle« fordert. In der Stadt Heinrich Heines muss ja »ein neues, ein besseres Lied« Gehör finden, so dass die Geschichte als Wintermärchen bzw. in der Sommerfrische an der Ostsee happy endet. A propos Braten. Der mafiös gestylte Bösewicht kriegt von Pogges Haushälterin bei seinem Einbruchversuch eins mit dem ihm national zustehenden Parmaschinken übergebraten.
Auch wenn der Vollmond melancholisch am Firmament hängt, Regisseurin Franziska Steiof, die Trio-Begleitung (unter Leitung von Klaus-Lothar Peters) und das Ensemble (voran die Titeldarsteller Insa Jebens und Marian Kindermann) bringen in 90 Minuten mit Musik, Tempo und Elan die Wahrheit an den Tag. Sozialkur als theatrale Kür. | AWI
Große Bühne Central, täglich, oft zwei Vorstellungen bis 22. Dez. 2010 (außer 10. bis 13. Dez.); www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
NICHT OHNE HERBERT
»Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« in Bochum
Irgendwie erwartet man doch, dass sich, nachdem Vorhang sich auftat, eine hölzerne Klappe öffnet, und der leicht quäckige Ohrwurm von der »Insel mit zwei Bergen« beginnt. Aber nix mit Augsburger Puppenkiste; obwohl die Wellen, über die zu Beginn das Postschiff tuckert, in dieser Tradition stehen. Statt blauer Müllsäcke sind es am Bochumer Schauspielhaus Papierbahnen, die über die Szene gepustet werden. Ansonsten kann auch das zunächst quietschbunte Bühnenbild dem Kinderbuchklassiker von Michael Ende wenig anhaben. Frau Waas trägt zwar einen hochtoupiert violetten Haarturm, und Bernd Rademacher gibt König Alfons den Viertel-vor-Zwölften amüsant-stromberghaft zerstreut und von sich eingenommen (»Ich, ähm, bin … der Dings!«); aber Regisseurin Katja Lauken bleibt nah an der Geschichte und erspart uns weitgehend aktuelle Anspielungen und Mätzchen. Wenn man mal das mutwillige Zitieren des Lokalheiligen Herbert G. außen vor lässt.
Man folgt Jim Knopf, Lukas und der Lokomotive Emma gern auf ihre abenteuerliche Reise nach China – und von dort durch Wüsten und Schluchten in die finstere Drachenstadt, wo Prinzessin Li Si aus Händen der garstigen Frau Mahlzahn befreit werden muss. Die Bühne (Kathrine von Hellermann) erzeugt mit einfachsten Mitteln Poesie, um nach dem schrill-bunten Anfang immer bedrohlicher zu werden und in der Drachenstadt mit Qualm und Feuer die Technik richtig auszureizen.
Einige Rollen übernehmen Puppenspieler: so das einjährige Kind Ping Pong, das Jim und Lukas vor dem Kaiserpalast empfängt. Schließlich erklingt doch noch das Lied von der Insel mit zwei Bergen, gesungen vom Ensemble, inklusive der beiden Musiker, die die Veranstaltung am Bühnenrand hinter ihrem Instrumentarium verbracht haben: mit wilden Vollbärten und in Anzügen aus violettem Samt, die glauben lassen, die verschollenen Söhne von ZZ-Top vor sich zu haben. | VKB
Großes Haus, 5. bis 10., 12. bis 15., 17., 19. bis 21., 23., 25., 29. Dez. 2010, oft zweimal täglich; www.schauspielhausbochum.de
WER IST PAPA?
»Mio, mein Mio« in Oberhausen
Bosse und Benka, gewappnet mit abenteuerlichen Schilden aus Sprungfedermatratzendraht, fechten im Zeitlupentempo einen Holzschwerterkampf. Spielerisch üben die beiden Kinderfreunde in der Wirklichkeit, was für sie später, in der Phantasie, bitterer Ernst werden soll: der Kampf gegen das Böse. Bo(sse) lebt bei regelwütigen Stiefeltern; unter geheimnisvoller Mitwirkung eines Flaschengeistes gelangt er unverhofft ins »Land der Ferne«, wo sein ersehnter Papa König ist und Bo, der nun Mio heißt, seit langem sucht.
»Mio, mein Mio« ist wohl Astrid Lindgrens märchenähnlichste und konventionellste Geschichte, doch auch sie erzählt, was die große Kindheitsbedichterin immer erzählte: dass Rettung in der Phantasie und Verlass nur auf sich selbst ist. Und dass einem (Kind) liebende Menschen dabei helfen.
Das Theater Oberhausen hebt den Kinderbuchklassiker von 1954, reduziert auf die Kernhandlung, auf seine Weihnachtsmärchenbühne, die prägenden Kindheitsbildern von heute Reminiszenz erweist. Das Land der Ferne ist ein bisschen Teletubbie-like und Papa in seinem quietschbunten Outfit der Typ des entertainenden TV-Partylöwen. Natürlich sorgt Elektropop für die akustische Dynamik. Leider ist auch die bunte heile Welt, in der Mio tun darf, was er will, und dennoch geliebt wird, bedroht: durch den bösen Ritter Kato, bei dessen bloßer Namensnennung das Licht im Theater flackert. Nun muss und darf Mio anwenden, was er einübte. Begleitet von Freund Benka, jetzt Jum-Jum, und beschutzengelt vom stummelflügeligen Trauervogel geht es auf dem Rücken des Holzschaukelpferdchen Miramis in den vom Schnürboden fallenden Dunkelwald, vorbei am kumpelartig aus der Erde ragenden Schwertschmied geradewegs zum Showdown. Und hier verschweigt die Inszenierung Marco Stormans nicht, dass das Unheimliche das Heim ist: Kato ist Papa und wohnt in den Gerippen des Campingwagens, der Bo einst in Stockholm Wohnung war. | UDE
Auff.: 4., 5., 12., 19., 26. Dez. 2010; www.theater-oberhausen.de
PARTYSTIMMUNG
»Ronja Räubertochter« in Aachen
Das Gruseligste sind nicht die Rumpelwichte. Auch nicht das geflügelte Monster, das durch den nächtlichen Wald fliegt. Nein, gruselig finden die 400 Kinder etwas anderes. »Iiiihhh«, schreien sie, als Ronja ihrem Freund Birk in der Mitte des Stücks einen kleinen Kuss gibt. Manche schütteln sich, andere springen auf – man möchte es am liebsten filmen. Auch sonst geht’s hoch her im Saal. Als die beiden Räuberchefs miteinander streiten, begleiten die Kids das Gerangel mit Anfeuerungs- und Buh-Rufen, die manche Boxbude auf der Kirmes toppen. In Momenten wie diesen merkt man, dass Kinderstücke nicht bloß eine Unterform von Erwachsenen-Dramen sind, sondern ein eigenes Genre.
Jedenfalls verfehlt die Aufführung von Astrid Lindgrens Romanklassiker am Theater Aachen seine Wirkung nicht. Dass die Inszenierung von Cordula Däuper so gut funktioniert, liegt auch an dem geschickten Mix von Phantasiewelt und Kinderrealität. Mit ihren Klettersteigen und Seilen wirkt die Bühnen-Burg wie Teil eines Abenteuerspielplatzes; die Höhle, in der sich Ronja und Birk verstecken, wird zum Zelt; die Wald- und Vogelgeräusche spielt ein Musiker mit Rasseln und Pfeifen live ein. Die Aufführung deckt die Illusion auf, ohne sie kaputtzumachen.
A propos Illusion: Nadine Kiesewalter (Ronja) und Felix Strüven (Birk) haben es nicht leicht. Ihre Figuren sind nicht mal halb so alt wie deren Darsteller – aber nach ein paar Minuten hat man das vergessen. Ansonsten verdient es vor allem »Glatzen-Peer« (Joey Zimmermann) genannt zu werden. Entfernt an Gollum aus dem »Herrn der Ringe« erinnernd, ist er wunderbar schrullig. Gesungen und getanzt wird auch – und das nicht nur auf der Bühne. Der reinste Kindergeburtstag. | JUK
Theater Aachen, Auff.: 4., 6. bis 10., 12. bis 22. und 25. Dez. 2010 sowie 22. bis 24. Feb. 2011; www.theater-aachen.de
IN DER ZEITMASCHINE
Kölner Kinderoper mit »Aschenputtel«
Seit 15 Jahren widmet sich die Kölner Kinderoper dem Nachwuchs: eine Institution. Lange spielte man mit großem Erfolg in der ins Foyer des Opernhauses gebauten Yakult-Halle. Das sperrige, die klare Riphahn-Architektur empfindlich störende Ungetüm ist seit Uwe Eric Laufenbergs Amtsantritt abgebaut. Vorübergehend zog man ins Alte Pfandhaus in der Südstadt, wo nun die »Aschenputtel«-Oper von Ermanno Wolf-Ferrari, kindgerecht abgespeckt und ins Deutsche übersetzt (Fassung Franz Rau & Christian Schuller, Orchesterbearbeitung Reiner Schottstädt), nur eine knappe Stunde dauert.
Die bis auf den König (Werner Sindemann) ausnahmslos blutjungen Sänger drängen sich auf einer kleinen Bühne ebenerdig in einem Oval, um das herum die Kinder ganz nah sitzen. Kein Orchestergraben trennt, das kammermusikalisch besetzte Ensemble findet sich stattdessen auf einer Empore. Regisseurin Brigitta Gillessen holt das Märchen durch eine hinzu gefügte Rahmenhandlung ins Hier und Jetzt. Mittels Zeitmaschine sind die Gebrüder Grimm angereist, um zu überprüfen, welche Gültigkeit ihre Geschichte von der bösen Stiefmutter, deren Töchtern und des unterdrückten Aschenputtel gegenwärtig noch hat. Sie stellen die Erzählung vor und greifen schließlich (in Gestalt der bei Wolf-Ferrari vorkommenden Gesandten) aktiv ein. Schnörkellos flott läuft das ab; die Sänger bringen ansteckende Spielfreude auf und beherrschen die anspruchsvoll gesetzten, zum Teil unangenehm hoch liegenden Partien in guter Textverständlichkeit. Raimund Laufen lenkt die Musiker effektsicher durch die sinnliche, farbenreiche und theatertaugliche Partitur. | REM
Altes Pfandhaus; Auff: 1., 2., 4., 8., 12., 21. und 28. Dez. 2010 sowie 13., 14., 18., 19., 21. und 22. Jan. 2011 2011. www.operkoeln.com
KEINE KOHLE!
»Das kalte Herz« nach Wilhelm Hauff in Dortmund
Unter all den Geschichten von jungen Männern, die auf der Suche nach dem Glück durch deutsche Märchenwälder streifen, ist Wilhelm Hauffs1827 entstandenes Märchen »Das kalte Herz« eine der schwärzesten. Und das nicht nur, weil Peter Munk sich im Schwarzwald mit der wenig Gewinn abwerfenden Köhlerei des verstorbenen Vaters abplagen muss. Weshalb er auch »Kohlenmunk« gerufen wird. Dunkel ist diese Mär, weil Hauff das Streben nach einem besseren Leben, nach Besitz und Reichtum zu einer selten häßlichen und unheimlichen Fratze verzerrt; weil da einem Sonntagskind die Welt zu Füßen gelegt wird und es nichts besseres zu tun hat, als über sie zu stolpern; und weil es am Ende heißt: Köhler, bleib besser bei deinen Kohlen.
Karg ausstaffiert, zugleich modern und historisierend und bemerkenswert aufgeräumt bringt Andreas Gruhn »Das kalte Herz« auf die große Bühne des Schauspiels Dortmund. Aber Firlefanz lässt Hauffs Erzählung ja auch kaum zu. Als Farbtupfer vor finsterem Grund quartiert sich anfangs Peter Munk als Tanzbär im roten Mantel in der Wirtschaft ein. Die Taschen des grob karierten Beinkleides voller Geld, legt er dort eine recht elegante Sohle auf die groben Dielen. Doch bald funktionieren die Spendierhosen nicht mehr. Denn wer einmal hatte, der will immer und mehr. Also wird das Herz an den Holländer-Michel verkauft, ein Dunkelmann im weißen Zuhälter-Look mit beeindruckender Organsammlung im Konservenregal. Den Stein, den Peter dafür eintauscht, kann er Lisbeth zwar noch zu Füßen legen, doch schlagen tut er nicht für sie. Und die Kohle möchte der Munk auch lieber für sich behalten. Ein Bettel-Chor der Armen streift in der eindringlichsten Szene der Inszenierung um die Munk-Villa, in der die Gefühlstemperatur trotz heißen Kaffees weit unter dem Gefrierpunkt liegt. Am Ende liegt Lisbeth tot auf dem Boden, steht wieder auf und Peter ist wieder arm. Alles auf Anfang. Und wenn sie nicht noch mal gestorben ist, dann sind sie bestimmt auch glücklich. | ANK
Auff.: fast täglich Termine zwischen dem 5. und 28. Dez. 2010 sowie 12., 13., 16., 24. und 25. Jan. 2011; www.theaterdo.de