SCHLANGENEI UND KRÖTENDRECK
»Die kleine Hexe« in Aachen
Zugegeben, beim Regen-Hexen hat sie noch ihre Probleme – da klatschen auch schon mal ein paar weiße Mäuse auf den Bühnenboden. Ansonsten klappt es aber schon ziemlich gut mit der Zauberei. Muss es auch. Schließlich hat die kleine Hexe monatelang gebüffelt, Tag für Tag sieben Stunden das Hexenbuch durchgeackert. Auch sonst alles daran gesetzt, eine richtig »gute« Hexe zu werden, um künftig trotz ihres jugendlichen Alters von nur 127 Jahren beim Tanz auf dem Blocksberg dabei sein zu dürfen. Nun naht die Prüfung vor dem Hexenrat. Die Ärmste ist fertig mit den Nerven. An diesem Punkt steigt die Inszenierung mitten in Ottfried Preußlers Kinderbuchklassiker ein und lässt die »guten« Hexentaten des verstrichenen Jahres im Rückblick gerafft vorüberziehen. Gemeinsam mit ihrem treuen Raben-Kumpel Abraxas erinnert sich die kleine Hexe an die Läuterung des unbarmherzigen Revierförsters und die Rettung eines Ochsen vor dem Grill. Man sieht zu, wie sie den Schneemann zur Züchtigung von zwei bösen Buben animiert und die Papierblumen eines bettelarmen Mädchens mit unwiderstehlichem Duft bezaubert.
Bei alldem hält man sich in Aachen eng an Preußlers schöne Vorlage von 1957 und lässt hier und da die Akteure nach einem der eigens komponierten Hexensongs tanzen, von denen das Publikum gern mehr gehört hätte. Ansonsten verzichtet man auf größere Effekte und beschränkt sich darauf, die Geschichte mit ein paar netten Gags aufzufrischen. Einem herrlich verstockt rockenden Kaufmann etwa oder einer kiffenden Kräuterhexe. Der Bürgermeister beim Schützenfest erinnert an den Showmaster im »Musikantenstadl« und die Handhaltung der Oberhexe an Angela Merkel. Die hinterlistige Muhme Rumpumpel sitzt mit Fliegerkappe auf ihrem »Easy Rider«-Besen, der Rabe ist als cooler Typ im Emo-Look herausgeputzt – mit Pony vor dem Auge, Sonnenbrille auf der Nase, Chucks an den Füßen und schwarz gefiederten Ärmeln. Am Ende jedoch bleibt alles beim Alten: Die kleine Hexe siegt und treibt den fiesen Alten das Hexen aus. Das funktioniert heute nicht schlechter als vor 56 Jahren. (Ab 6 J.) | STST
KATZEN-ALARM
»Anton, das Mäusemusical« in Essen
Wir sind nicht bei Hempels unterm Sofa, sondern bei Hoffmanns. Die Sprungfedern sind aus dem Polster getreten und lassen für die Bequemlichkeit des Möbels nichts Gutes ahnen, dessen Unterseite monumental die Bühne des Grillo-Theaters beherrscht, flankiert von vier hölzern gedrechselten Beinen. Stark vergrößert und auf Mäuse-Maßstab gebracht, wo dann Bleistift und Korken ziemlich massig wirken. Hier trainiert die Maus mit Wattestäbchen oder einer Sicherheitsnadel.
Drei Brüder Maus: der sportive Franz, der dicke Willi und der kleine Anton, der musikalisch die Geige kratzt, den Schwanz zum Violinschlüssel verknotet trägt und auf dem T-Shirt die WDR-Maus. Gut geht’s ihnen, auch weil bald Heiligabend ist und man Mandelmakronen und »Spek«-ulation stibitzen und es sich wohl sein lassen kann, wenn nicht gerade dumpfe Trommel-Schritte das Nahen von Oma Hoffmann im Schattenriss ankündigen oder aus Köln Tante Lizzy mit Bergen von Koffern zu Besuch kommt und tönt wie im Millowitsch-Theater. Bald werden die Gesetze des Wohnzimmers zu denen des Dschungels, was nicht nur Loriot wusste, sondern auch eine Mäuse-Existenz am eigenen Fell erleidet. Denn es flattert ein Weihnachtswunschzettel herein, auf dem sich ein kleiner Hoffmann »senlich« eine Katze wünscht. Oh Schreck! Aus ist es mit dem Frieden, die Lebensmittel werden weggesperrt, der Staubsauger saugt, und eine Mausefalle lockt mit Schweizer Käse. Ernstfall Weihnachten!
»Das Mäusemusical« von Gertrud und Thomas Pigor & Jan-Willem Fritsch ist alles andere als blöd, sehr gewitzt, ein bisschen dreist und blasphemisch. Bei dem Autoren-Kollektiv muss es sich um Fest-Muffel handeln, wenn das Christkind als Geflügel (vom Himmel hoch) und gefiedertes Raubtier tituliert wird. Mäuse-Perspektive eben. Dazu swingt jazzig das musikalische Trio und lässt Lalo Schifrins »Mission Impossible« anklingen, wenn Franz auf Beutejagd geht. Vielleicht sind die ganz Kleinen überfordert, aber je älter man ist, desto mehr Spaß macht es. Auch zu sehen, dass Regisseur und Intendant Christian Tombeil sich nicht zu schade ist, mit dem Stück sein Essener Debüt zu geben –und zwar so, dass aus der Maus fast ein Elefant wird. (Ab 6 J.) | AWI
IM WUNDERLAND
»Alice«, Ein Märchenstück nach Lewis Carroll in Münster
Mit einem Schlag gehen alle Lichter aus. Der Überraschungseffekt erzeugt einen Moment der Irritation, vielleicht des Schreckens. Sofort herrscht fiebrige Stille. Zugleich erfüllt spürbare Spannung den Zuschauerraum. Etwas ist geschehen. Mit der Dunkelheit hat sich nicht die Stimmung verändert, auch der Raum hat Bedeutung. So beginnen Reisen, vielleicht Verwandlungen. Als das Licht wieder angeht, gelten andere Gesetze. Ein Mädchen, Alice (Janna Lena Koch), steht vorn auf der Bühne und wirft fragende Blicke in den Saal. Hinter ihr ragen riesige künstliche Grashalme in die Höhe, zwischen denen immer mal mehrere Augenpaare sichtbar werden. Nach und nach kommen die Grashalme auf sie zu, bis die vier sonderbaren Gestalten, die sich als Beobachter eines Nicht-Elefanten zu erkennen geben, die verdutzte Alice in ihre merkwürdige Wirklichkeit hineinziehen.
Katja Hensel hat für ihr Märchenstück Lewis Carrolls Kinderbuch-Klassiker »Alice im Wunderland« nicht einfach nur adaptiert. Ihre Bearbeitung ist zugleich eine Radikalisierung, die Carrolls traumähnliche Geschichte in eine abenteuerliche Folge absurder Szenen verwandelt. In der Welt, in die Alice stürzt, als sie einem Kaninchen mit einer goldenen Taschenuhr an der Pfote folgt, ist Logik außer Kraft gesetzt. Theo Fransz hat das surrealistische Spiel für Kinder, die hier ihrer Fantasie freien Lauf lassen dürfen und nebenbei noch lernen, dass Zwei und Zwei manchmal Eins sein kann, mit den einfachsten Mitteln auf die Bühne gebracht.
Gerade zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler erwecken – neben Janna Lena Kochs Alice – alle anderen Figuren zum Leben. So verwandelt sich Regine Andratschke im Handumdrehen von der ständig grinsenden Katze in die blutdürstige Königin. Ein wenig fühlt man sich in den extrem stilisierten, geschickt mit Licht und Schatten arbeitenden Szenen an die Inszenierungen Michael Thalheimers erinnert. Wie in dessen Arbeiten erzeugt die extreme Reduktion auch in »Alice« einen spezifischen Sog. Als würden wir alle mit Alice ins Bodenlose fallen. (Ab 6 J.) | SAW
TIME-OUT
Michael Endes »Momo« in Düsseldorf
Große Leichtigkeit erfordert manchmal große Disziplin. Das lernt man bei »Momo« am Düsseldorfer Schauspielhaus. Regisseur Rüdiger Pape nutzt die Bühne (Flavia Schwedler) wie ein Karussell – mit dem Unterschied, dass hier bei jeder Runde etwas Neues erscheint. Der Effekt ist gerade am Anfang beeindruckend. Da öffnet Nina, die Wirtin, ihre Trattoria, bei der nächsten Drehung sind die Tische schon gedeckt. Fusi, der Barbier, begrüßt einen Kunden, Drehung, dann sitzt er mit Rasierschaum im Gesicht auf dem Stuhl. Zwischendurch sausen Figuren auf Fahrrädern durchs Bild, Passanten führen Hunde aus, und der Dorftrunkenbold torkelt einher. Die Geschäftigkeit der Piazza ist wunderbar eingefangen. Das zentrale Motiv von »Momo« ebenso – auf den zweiten Blick ergibt das Bühnenbild den unteren Teil einer Sanduhr.
Denn es geht um Zeit in diesem Stück. Und um die »grauen Herren«, die sie stehlen wollen. Dafür gaukeln und zählen sie den Dorfbewohnern vor, dass sie ihre Minuten und Sekunden mit Freunden, Büchern, Musik oder Geschichten verschwenden. Wer auf diese »nutzlosen Dinge« verzichten würde, hätte mehr Zeit, so behaupten es die Zeitspar-Herren. Nach und nach kapitulieren die Dorfbewohner und werden zu farblosen Effizienz-Robotern. Nur Momo, das myste-riöse Kind, widersteht dem Lockruf von »Agent BWL«. Der verspricht den Leuten »Sachen, Sachen, Sachen« als Ersatz für Freunde. Ein bisschen moderne Konsumkritik mixt die Inszenierung in Michael Endes Buchvorlage von 1973. »Ich hab jetzt ein Smartphone!«, jubelt Momos Freundin Liliana an einer Stelle. Dann saust sie auf dem Fahrrad aus der Szene. Keine Zeit mehr! Später baumeln Geschenke von der Decke wie Köder an einer Angel.
Gut, dass es den weisen Meister Hora und seine Schildkröte Kassiopeia gibt. Mit ihrer Hilfe versucht Momo, die gestohlene Zeit zurückzuerobern. Jennifer Frank spielt sie als Pippi-Langstrumpf-Verschnitt, die die Stoppuhrwelt der grauen Männer schier durch Charme erledigt. Einen Sieg tragen sie allerdings davon: Anderthalb Stunden vergehen in dem quirligen, lebendigen Stück wie im Flug. (Ab 6 J.) | JUK
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
ELEGANTES PÜPPCHEN
»Pinocchio« in Dortmund
Es gibt sie noch, die guten Dinge. Nicht nur bei Manufactum. Auch in der Tischlerei Gepettos, in der die Nostalgiker unter den handwerklich versierten Zuschauern angesichts der hübsch an der Wand aufgereihten Werkzeugklassiker schon feuchte Hände bekommen dürften, bevor der Alte das erste Mal das Schnitzmesser zur Hand nimmt. Überhaupt ist das Bühnenbild ein Traum in Holz. Den Helden der Geschichte aber hat Regisseur Andreas Gruhn nicht mit einem frechen Püppchen besetzt, sondern mit Joeri Burger. Der verleiht seinem Pinocchio mit weit aufgerissenen Augen anfangs eine dämonische Boshaftigkeit, wie wir sie aus guten Stephen King-Verfilmungen kennen. Doch weil es auf Weihnachten zugeht und auch die Sechsjährigen im nächsten Jahr wiederkommen sollen, wird das Beil hier nur rausgeholt, um Baumstämme in menschenähnliche Wesen zu verwandeln.
Dann beginnt die Reise, an deren Ende sich der Holzkopf ja in ein aufgewecktes Kind verwandeln soll. Gleich die erste Station bietet eine willkommene Gelegenheit, die Theatermaschinerie effektvoll in Gang zu setzen. Denn Pinocchios Weg zur Schule führt bei den Puppenspielern vorbei; für die Regie eine Einladung, den Vorhang nicht nur vor, sondern auch auf der Bühne hochgehen zu lassen. Anders als im Erwachsenentheater, wo derartige Manöver uns pflichtschuldig daran erinnern sollen, dass man den Guckkasten bitte nicht mit der Wirklichkeit verwechseln sollte, vermag dieses Spiel im Spiel junges Publikum ganz wunderbar zu verzaubern.
Stilsicher und mit italienischer Eleganz wird in Dortmund auch der Rest von Carlo Collodis Geschichte erzählt. Vielleicht ein bisschen zu retro-geschmackvoll, woran auch die blinkende Flipper- und Glücksspielhölle nichts ändert, in die Bühnenbildner Oliver Kostecka das Spieleland übersetzt hat. Am Ende aber reißt es der beherzte Auftritt der roten Gianna und ihrer langunterhosig-unterbelichteten Räuberbande ganz schön raus. (Ab 6 J.) | ANK
ALLE MAL AUSBRÜTEN!
»Urmel aus dem Eis« in Oberhausen
Überall gibt es jemanden, der die ganze Arbeit macht und nie Dank dafür erntet. Auf der Insel Titiwu ist dies der Seeelefant, der deshalb sehr traurig ist. Und weil er traurig ist, »Ich bin traurig« singt, zur Ukulele und Melodie von »I am sailing«. Wawa und Ping hingegen gehen ganz in der Beschäftigung mit der Frage nach der richtigen Wohn-Muschel auf, der Waran hat grad eine neue bezogen, die wie eine Tiefkühltruhe aussieht, der Pinguin ist noch auf sehnsüchtiger Suche. Er sagt immer Mupfel statt Muschel, alle Tiere hier haben einen Sprachfehler. Denn Professor Habakuk Tibatong hat ihnen zwar das Sprechen beigebracht, doch nicht ganz perfekt. Womit sie sich in der Lage so mancher Kinder im Vorschulalter befinden, die im Theater Oberhausen gebannt Max Kruses 60er-Jahre-Abenteuer des kleinen Urmel lauschen, das aus einem Ei schlüpft, welches in einem Eisberg steckt und soeben ans Gestade der Südseeinsel Titiwu geschwemmt wird. Wo Prof. Tibatong, Wawa, Ping und Seele-Fant leben und das Sauber-Schwein Wutz haushälterinnenstreng den Besen schwingt. Tim Tintenklecks und Schusch fehlen, dafür sind Meeresstrand und Tierkostüme, Riesenblumen und ein Felsen wie aus einem Aufklappbuch so fantasiereich wie -anregend ausgearbeitet (Bühne Stefanie Dellmann, Kostüme Gertrud Rindler-Schantl).
Weil er nun mal der Stärkste ist, muss Seele-Fant wieder ran, das Ei in seinem Eis-Iglu aufs Feste schieben, wo es, so beschließt Tibatong, ausgebrütet werden muss. Und zwar von allen. Weswegen alle zur E-Gitarre den Ei-Ausbrüt-Song singen. Heraus schlüpft das Urmel-Dino, krabbelt winzflügelig und mamaselig zu Wutz – verständlich, wölben sich ihr doch sechs Brüste unter der Schürze. Ping schnappt sich die Eierschale als Muschelersatz; dann beginnt das Abenteuer. Der schießwütige König Pumponell trifft zur Jagd aufs Urmel ein, wird überlistet und besiegt, dennoch gerät Urmel in Pumponells Käfig, obwohl die Kinder im Publikum es vergeblich zu warnen versuchen. Am Ende geht alles gut aus. Zumal das Ensemble eine geradezu inselüberbordende Pfiellust an den Tag legt – um es mit Ping zu sagen. (Ab 6 J.) | UDE