// Ein Enzyklopädist? Vermutlich. Denn wer das gesamte Klavierwerk Bachs, die Klavierkonzerte Mozarts, dazu sämtliche Sonaten von Schubert, Mozart und Beethoven aufgeführt hat, darf sich dieses Etikett gefallen lassen. Doch der 1953 in Budapest geborene András Schiff sieht es weniger als Ballast, sondern eher als Ausdruck seines künstlerischen Selbstverständnisses. Sein letztes Großprojekt war in verschiedenen europäischen Großstädten die zyklische Aufführung der 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven. Lange hatte er sich damit Zeit gelassen. Erst mit knapp 50 wagte er den Schritt. Begründet hat Schiff das Zögern damit, dass sein Anschlag noch an Kraft und damit auch an Farbigkeit habe gewinnen müssen. Wer Schiffs Beethoven-Spiel hört, registriert schnell, dass jeder Ton ein eigenes Gewicht, jede Phrase ihre Bedeutung hat. Das Publikum weiß die Mischung aus emotionalem und analytischem Zugriff zu schätzen. Erst vor wenigen Wochen spielte er vor vollen Reihen während eines Benefizkonzertes des Bonner Beethovenfestes. Das Festival, bei dem Schiff in einer Doppelrolle als Pianist und Dirigent zwei Konzerte geben wird, steht in dieser Saison unter dem Motto »Macht und Musik«.
K.WEST: War Beethoven ein politischer Mensch?
SCHIFF: Ich bin mir nicht sicher, ob er politisch gedacht hat, aber er war interessiert. Obwohl er sehr einsam war, hat er nicht im Elfenbeinturm gelebt, seine Antennen waren immer ausgefahren.
K.WEST: Wie würden Sie seine Weltanschauung beschreiben? Kann man ihn einen Freiheitskämpfer nennen?
SCHIFF: Schwer zu sagen. Für die Freiheit, die Menschenrechte hat er sich auf seine Weise stark gemacht – wir brauchen nur an die Neunte Sinfonie zu denken. Andererseits legte er etwa großen Wert darauf, aristokratischer Abstammung zu sein – was er de facto gar nicht war. Irgendwie passen diese zwei Seiten nicht zueinander.
K.WEST: Hatte er politische Grundüberzeugungen, an denen er festhielt, oder war er vom Typus mehr der Hitzkopf, denkt man an die wütend ausgestrichene Widmung an Napoleon in seiner »Eroica«?
SCHIFF: Ein Choleriker war er gewiss. Ich glaube aber, dass er durchaus ein eigenes Wertesystem besaß, auch im Privatleben. Moral und Ethik besaßen für ihn hohen Stellenwert. Beethoven war sicher kein Asket. So wissen wir beispielsweise, wie sehr er sich bemüht hat, seinen Neffen gut zu erziehen – und wie er dabei gelitten hat.
Vom Dunkel zum Licht – so endet nach Schiffs Auffassung die letzte der Beethoven-Klaviersonaten. Kein Zufall, denn diese Wendung gibt es bereits im »Fidelio«, für Schiff »ein wunderbares Werk«, das leider oft von kühnen Regisseuren in seiner Botschaft beschnitten werde. Seine eigene Botschaft zu Beethoven hat Schiff nicht nur in einem Gesprächsband über die Sonaten veröffentlicht, sondern auch modern medial zugänglich gemacht. Als er den Werkzyklus im Laufe von drei Jahren in London aufführte, gab er am Tag vor dem Konzert jeweils eine Einführung. Sie wurde mitgeschnitten und ist inzwischen über die Homepage des Guardian kostenfrei abrufbar: Beethoven total, sozusagen, eine verständliche Exegese, die sich auf mehrere Stunden summiert. Doch trotz aller Erklärungsversuche wird deutlich, dass Beethoven sich eindeutigen Zuordnungen entzieht.
K.WEST: Wie steht es Ihrer Ansicht nach um Beethovens Verhältnis zum Militärischen?
SCHIFF: Von jemandem, der für Frieden und Freiheit plädiert und eigentlich eine Art Pazifist ist, würde man eine klare antimilitärische Haltung erwarten. Das aber war bei Beethoven nicht so. Das kann man in einigen Werken, etwa der so genannten »Schlachtensinfonie«, nachhören. Allerdings war diese Haltung in der damaligen Zeit kaum etwas Außergewöhnliches. Es gibt ähnliche Beobachtungen bei Schubert oder bei Haydn, so in dessen »Militärsinfonie« oder der »Missa in tempore belli«. Das Militär besaß damals etwas eigentümlich Glorreiches.
K.WEST: Ist Ihnen solche Musik suspekt?
SCHIFF: Die Musik nicht, alles Militärische schon. Wenn ich eine Waffe sehe, ekelt es mich. In der Musik gibt es teilweise ganz subtile Anspielungen. Etwa der Beginn des Rondos in Beethovens viertem Klavierkonzert. Das klingt wie eine im Hintergrund aufziehende Militärkapelle. Die Anspielung wird deutlich, wenn man sich den Widmungsträger des Konzerts ansieht: Erzherzog Rudolf. Und der hatte, obwohl später Kardinal, als junger Mann eine steile militärische Karriere hinter sich. Solche Stellen sind mir deswegen nicht suspekt. Beethoven hat das Militärische akzeptiert, weil er womöglich glaubte, es sei nötig, um eine optimale Weltordnung zu erreichen.
K.WEST: Würden Sie in der Kunstgeschichte einen Wahlverwandten zu Beethoven erkennen?
SCHIFF: Ich war vor kurzem in Madrid in einer Goya-Ausstellung. Da dachte ich wieder, dass beide Künstler eine geistige Verwandtschaft verbindet. Ich sah dort Goyas Serien von Zeichnungen über die Schrecken des Krieges – das Fürchterlichste, was man sich vorstellen kann. Etwas Vergleichbares gibt es in der Musik nicht, allenfalls in einigen Schostakowitsch-Sinfonien.
K.WEST: Gerade Schostakowitsch ist ein Beispiel dafür, wie ein Regime, das sowjetische, seine Macht ausnutzt, um die Kunst zu beschneiden.
SCHIFF: Es wird sehr oft übersehen: Wie viele Komponisten waren Untergebene einer Macht, eines bestimmten Systems! Selbst ein Schubert, bei man es kaum vermuten würde. Er und sein Freundeskreis waren wie Verschworene und wurden von Metternichs Geheimpolizei haarklein beobachtet. Da ist nichts mit Idylle. Wie verrückt das Ganze war, sieht man daran, dass Schuberts Freund Mayrhofer nicht nur Dichter war, sondern gleichzeitig auch oberster Zensor. Kein Wunder, dass er sich zu einer gespaltenen Persönlichkeit entwickelt hat.
K.WEST: Schimmert die Macht als eine Art Folie also immer durch?
SCHIFF: Vielleicht nicht immer, aber zumindest sehr oft. Macht lässt sich von der Kunst nur schwer trennen. Wobei sich Macht nicht automatisch über den Staat definiert. Auch die Kirche als Machtfaktor hat bekanntlich eine große Rolle gespielt.
Schiff, dem alles Extrovertierte fremd ist, betrachtet Musik nie als Einzeldisziplin, sondern als einen von mehreren kulturhistorischen Bausteinen. Bei der Frage nach dem Einfluss der Kirche nennt er zuerst die Architektur: »Wie soll man für die Kirche bauen, angesichts der vielen Vorschriften?« Die meisten Kathedralen erscheinen Schiff als »Wunder«, weil Kunst und Direktive eine Verbindung eingegangen seien, die der Betrachter kaum registriere. Schiff ist ein passionierter Leser. Krimis sind nicht seine Sache. »Ich spiele auch keine Unterhaltungsmusik. Selbst wenn ich wollte, bleibt dafür nicht genügend Zeit.« Er nähert sich dem »uomo universale« an, der sein Wissen nicht als bleiernen Panzer trägt, sondern als eine Art Schlüssel verwendet. Wenn er Beethoven spielt, möchte er eben eine Vorstellung davon haben, welche Literatur damals geschrieben, welche Bilder gemalt und wer von wem wie regiert wurde. So ist Mozarts »Figaro« ohne Französische Revolution nicht denkbar. Da passt es, dass Schiff inzwischen auch als Dirigent auftritt. Er habe sich schlicht »aus Interesse, aus Neugierde« dazu entschlossen. Schon manch einer seiner Kollegen – Barenboim, Ashkenazy, Eschenbach – ist diesen Weg gegangen. Ans Klavier sind sie allenfalls sporadisch zurückgekehrt. Doch für Schiff soll das Dirigieren nicht die Haupttätigkeit werden, allenfalls eine Ergänzung.
K.WEST: Als Dirigent haben Sie auch eine gewisse Macht, denken wir an Elias Canettis Einlassungen zu diesem Charakter.
SCHIFF: Ich habe zunächst die Klavierkonzerte von Bach vom Flügel aus dirigiert, dann die Mozart-Konzerte. Dabei geht es nicht um Macht, sondern um ein möglichst natürliches Zusammenspiel. Erst danach habe ich sinfonische und oratorische Werke sowie Mozarts »Così« als bislang einzige Oper dirigiert. Da ist der Einfluss zwar ein anderer, aber Macht interessiert mich überhaupt nicht.
K.WEST: Für manche Dirigenten ist das der zentrale Impuls …
SCHIFF: Mir liegt mehr daran, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, wie es möglich ist, dass eine Gemeinschaft von Musikern, bestehend aus fünfzig oder hundert Menschen, zusammenspielt und versucht, jemandem am Pult zu folgen, obwohl viele es nicht mögen.
K.WEST: Wie lässt sich das mit Ihrem demokratischen Verständnis in Einklang bringen?
SCHIFF: Demokratie ist von allen schlechten Lösungen die beste, hat Churchill einmal sinngemäß formuliert. So ist es auch zwischen Dirigenten und Musikern. Man muss eine gelungene Mischung aus Autorität und Freiheit erreichen. Ohne Autorität und Respekt geht es nicht. Die Zeit der großen Pultdiktatoren à la Toscanini ist vorbei. Damals hatten Dirigenten auch die Macht, Musiker zu entlassen. Das ist vorbei, zum Glück. Was aber nicht funktioniert, und da muss man als Dirigent Mittel und Wege suchen, ist, wenn Orchestermusiker sich wie graue, gelangweilte Beamte verhalten.
K.WEST: Was machen Sie dann?
SCHIFF: Ich erinnere sie beispielsweise daran, dass sie als junge Menschen einmal die Musik geliebt haben – so sehr, dass sie sie zu ihrem Beruf gewählt haben. //
Auftritte am 3. und 5. Sept. 2008 mit der Cappella Andrea Barca und Werken von Haydn, Mozart und Beethoven in der Bonner Beethovenhalle; Infos: 0228 / 20 10 345; Tickets: 0180 / 500 1812; www.beethovenfest.de