TEXT: SVENJA KLAUCKE
»Es röhrt der Hirsch / das Reh röhrt nie / Auch röhrt der Waidmann / man weiß nicht wie / Und nicht warum / Wie dumm.« Wir sind ein kulturinteressiertes Land kunstsinniger Menschen. Das soll demnächst die ganze Welt wissen. Deshalb geht bei der Fußball-WM nichts mehr ohne Kulturbeitrag. Und keine Ausstellung, Lesung, Oper, keine Kulturinstitution und Kunstäußerung, die sie nicht auf Fußballformat trimmen, der sie nicht das WM-Leder über die Ohren ziehen, bis es knirscht und kracht. Das Eckige muss ins Runde, es hilft nichts. Man ist schon ganz geledert davon. Aber bitte: zur nächsten Balla-Balla-freien Kulturzone ist es nur ein kleiner Schritt. Vom Dortmunder Westfalenstadion in die Dortmunder Westfalenhalle.
Vom Torjäger zum Jäger. Vom WM-Hype zur Messe »Jagd & Hund« (31.1.-5.2.) und ihrem traditionellen Höhepunkt am 3. Februar. Einst Geheimtipp, heute Kult. Ein Ereignis, das sui generis künstlerische wie sportlich- kämpferische Aspekte vereint, noch dazu mit Sex zu tun hat und zugleich feinfühlige Ausführende erfordert. Ein Event, das also die Quadratur des Balles ist, der ideale WM-Kulturbeitrag wäre: die Deutsche Meisterschaft der Hirschrufer. Der Hirschbrunft- Imitatoren. Der Brunfthirsch-Intonierer. Ein Wettstreit der Meisterminnesänger am Hofe des Königs der Wälder. Der Tannhäuser und dem Sängerkrieg auf der Wartburg in nichts nachsteht.
Ziel des Hirschrufs bei der Jagd in der Paarungszeit ist es, dem Hirsch die Anwesenheit eines Rivalen vorzutäuschen und ihn so aus der Deckung zu locken. Rund hundert Hirschrufer gibt es in Deutschland, zehn davon, die Elite, tritt in Dortmund zum Wett- Röhren vor einer Jury an. Dabei imitieren die Athleten mit frei wählbarem Instrument das tierische Geschrei. Knörren, stöhnen, tröten, pröten in armlange Ochsenhörner, in Tritonsmuscheln oder Teleskop-Eigenkonstruktionen aus Papprollen oder Plastikröhren, meist Abflussrohre. Und simulieren so triebgetreu die vibrierenden Luftröhren bebender Rotwild-Männchen. Es gibt auch Meisterschaftsanwärter, die tragen im Koffer echte, extralange Hirschluftröhren bei sich – getrocknete, ohne Kehlkopf. Einfach so, aus Liebe zur Sache, wegen ihrer Härte sind die edlen Echtteile ungeeignet als Instrument. Sieger ist, wer die diversen Stimmungslagen eines Brunfthirsches phonetisch am besten wiedergibt. Denn in natura kommt jener nur aus dem Unterholz, wenn der Rufer den richtigen Ton getroffen hat. Dazu muss der wackere Waidmann die Stimmung des Hirsches genau kennen. Treibt dieser gerade ein Hirschfräulein vor sich her? Oder grummelt er schon nach genossenem Glück? Ist es ein Halbstarker oder ein alter grantiger Sack? Die Kunst, Profis betonen das, besteht darin, »sich in die Gefühlslage des Hirsches hineinzuversetzen «. Wie ein alter Hase einmal sagte: »Ich muss wissen, was der hören will.« Also sind in Dortmund Rufe in verschiedenen Disziplinen darzubieten. Etwa: »Der alte Hirsch brüllt bei Brunftbeginn herausfordernd und umkreist sein Rudel.« Oder: »Kämpfende Konkurrenten«. Da bebt unter den schauerlichen Schreien der Messehallenboden, die Klimaanlage erzittert. Ein für Kenner unvergleichlicher Ohrenschmaus. Herrlich auch die heiseren Grunzlaute eines von zahllosen Liebesakten abgebrunfteten Männchens.
Gut, vielleicht ähneln die Kandidaten beim inbrünstigen Brunsten und Blasen optisch chinesischen Streifenhamstern bei der Alkoholkontrolle. Aber stets ist es ein Hörgenuss, schon wenn die Künstler sich warm röcheln, die Abflussröhren dehnen, als Warm-Up den suchenden Hirsch geben. Vorurteilsbehaftete Laien würden »die schönste Musik für Jägerohren « womöglich als Laute beschreiben, wie sie auf dem stillen Örtchen entstehen nach dem zehnten Glas zuviel. Oder einer asthmatischen Bulldogge mit Magenkrämpfen entweichen. Aber man achte einmal auf die klanglichen Feinheiten. Allein die Farbabstufungen. Vom sensiblen Röcheln bis zum erregten Urzeittherapieschrei. Oder wenn von unten herauf Druck aufgebaut wird und es dann zu den Sprengrufen kommt, kurzen geschlossenen Vokalstößen, die später ins Wüstlingshafte hinüberspielen. Oder der Trenser, kurze, klagende Würgegeräusche, auch gut in Manier eines Basso continuo zu verwenden. Kurz: eine Meisterschaft der Nuancen.
Schließlich wäre ein Jäger, der sich in freier Wildbahn nur um einen Tick im Ton vergreift, auch in arger Verlegenheit. Er könnte vom geilen Hirschbock missverstanden und für eine heiße Hirschkuh gehalten werden. Nein, das Hirschbrunftröhren ist eine hohe Kunst, die nur ganz wenige Menschen wirklich beherrschen. Würdig eines WM-Kulturprogramms. Und das Schönste: So, wie dem Fußball der Damenfußball zur Seite steht, kennt auch der Hirschrufer eine feminine Variante. Das Rehfiepsen. Wirklich wahr.