Ein frostiges Thema. Mit glühenden Überraschungen, denn durch lichte Schneedecken brechen bunte Fragmente einer darunter verborgenen Realität hindurch. Wir sehen russische Folklore, mächtige Herrschaften, einfach Leute, Berge, Täler, den Himmel. Die Schneedecke ist Sinnbild von Leere und Kälte, ihr Weiß abstrahiert, deckt zu und lässt vergessen. Aber sie taut zugleich, so dass auf dem Weiß Fruchtschoten oder Kähne driften. Die Zwischenräume wirken wie Höhlen, Luken, Löcher, durch die Menschen hindurchblicken.
Ilya Kabakov, der im Museum am Ostwall seinen seit 2004 entstandenen Bilderkomplex »Under the Snow« zeigt, nennt im Gespräch gleich mehrere Metaphern für den Schnee und seine poröse Struktur. Philosophisch meditiert er über unsere Wahrnehmung: »Wir sehen nie das gesamte Universum. Wir gucken nur auf einige Elemente, nie auf die ganze Welt.« Dann wird er konkret: »Der Schnee bedeckt im Winter die Erde. Ich glaube und bin sicher, dass unter dem Schnee eine sehr schwere, stabile Basis besteht, die Erde – unser Fundament. Aber im Schnee sind Schmelzlöcher und Hohlräume, da gibt es keine Basis, dort ist eine leere, unsichere, instabile Welt.«
Die weiße Farbe umfasst für den 74-jährigen Kabakov alles und nichts, in einem umfassenden, existentiellen Sinn: »Das Weiß ist nicht nur das Nichts, sondern seit der byzantinischen Kultur auch das heilige Licht. Darum gleicht der Schnee auch einem sakralen Raum, der die Realität umrundet. Das Weiße in der Bedeutung des Lichts ist wichtiger als die visuelle Realität. Das weiße Licht funktioniert überall, die Realität ist dem gegenüber – nur – wie ein Punkt.« Wie nebenbei fügt er hinzu, dass der Schnee »wie eine transparente Vision, ein Traum, das Ephemere« sei. Kabakov baut seine Gedankengebäude für gewöhnlich in dreidimensionalen Räumen, nun aber demonstriert er die Tiefen und Höhen seines nahezu mystischen Denkens im flachen Gemälde. Er lässt Personen aus dem Schneeloch schauen, während der Betrachter hineinschaut. Der Künstler aus der Ukraine, der seit 1988 in Amerika lebt, liebt Metaphern, auch im Politischen. Die Schneeschmelze signalisiere nicht nur den Beginn des Frühlings, sondern auch das Tauwetter in den frühen 60er Jahren in Russland nach dem Stalinismus: »Zeichen einer neuen, wärmeren, menschlichen Epoche, mit mehr Demokratie und Freiheit.« Andere Assoziationen sind topografischer Natur. Der international gefragte Künstler denkt an seine Flugreisen, wenn hoch droben in den Lüften die Wolkendecke aufbricht und Fragmente der Erde sichtbar werden.
Kabakov arbeitet mit Acrylkreidegrundierung auf amerikanischer Leinwand. Die farbigen Partien haben seltsamen Glanz, weil er Ölfarbe und Emaille kombiniert. Sie wirken fern und schön, wie geträumt, wie Zitate aus alter Zeit. Für die Farbwahl nennt er maltechnische Gründe: »Wenn man mit kalten Farben arbeitet, die ins Blaue gehen, erzeuge ich zu viel illusionistische Tiefe, die ich nicht will. Wenn ich das Bild flach haben will, muss ich wärmere Farben nehmen. Rosé beispielsweise vermittelt zwischen kalten und warmen Tönen.« Er suche »eine Balance zwischen dem Zurückgehen und Nach-vorn-Springen der Farbe«.
Seit fünf Jahren widmet sich Kabakov eher der Malerei als der Installationskunst. Er wolle sich nicht auf ein Genre festlegen, habe selbst eine Ausbildung in Malerei, Zeichnung und Buchillustration genossen: »Das war gut in der russischen Erziehung, es gab keine Spezialisierung für Bildhauer oder Maler, es galt das universale Prinzip, wie in der Renaissance.« Manche Köpfe auf den Schneebildern erinnern an Fresken. Da winkt Kabakov sofort ab. Bei der Beschäftigung mit Fresken müsse man den Glauben haben, dass sie für die Ewigkeit bleiben würden: »Für mein Gefühl gibt es keine Ewigkeit. Und ich habe keine Technik und Zeit, drei Jahre und mehr an ihnen zu malen.« Doch habe er ein Monument für die Emigranten in Bremerhaven im Inneren ausgemalt. ein Haus, durch das man geht, darin das Fresko mit einem Schiff. »Das war der letzte Schritt, um die Heimat zu verlassen und ins neue Glück zu kommen …«
Die Schnee-Bildfolge stellt er erstmals aus – und zwar auch deshalb in Nordrhein-Westfalen, weil er hier auf seiner »Dienstreise« (er mag das Wort Emigration nicht) immer gut empfangen worden sei. Seine erste Station in Deutschland war 1991 die Kunsthalle Düsseldorf, da präsentierte er unter dem damaligen Ausstellungsleiter Jürgen Harten, einem Enthusiasten der russischen Kunst, seinen »Roten Waggon«. Kabakov erinnert sich gern an diese Zeit, er habe damals in der Nähe von Paris in einem Dorf gelebt – in einem Schloss, wo Harten den »Waggon«privat in einer riesigen Halle besichtigt habe. Betrat man den abgedunkelten Innenraum des Waggons, hatte man eine bühnenartige Situation mit nostalgischer Musik aus der Sowjetzeit vor sich. Vor dem Gefährt aber lag ein Berg von Müll. Ein weiterer Haltepunkt auf der Kunst-»Dienstreise« war und ist für ihn die Zeche Zollverein. Kabakov bringt die Sprache auf Wolfgang Roters, damals Chef der Entwicklungsgesellschaft Zollverein und heute Geschäftsführer des M:AI Museums für Architektur und Ingenieurkunst NRW, und nennt den Kunstsinnigen »eine phantastische, idealistische Person mit romantischen Ideen«. Roters hatte Kabakovs »Palast der Projekte« in Madrid gesehen und die gewaltige gewundene Installation als ständige Ausstellung für das extra umgebaute Salzlager der Kokerei in Essen erworben. Der »Palast« stellt eine Summe gescheiterter Utopien dar – auch mit Blick auf das Weltkulturerbe Zollverein. Kabakov erläutert etwas resigniert: »Wir haben riesige Pläne, Modelle, Zeichnungen produziert, für das ganze Gelände. Sieben Projekte, eine russische Opera, die Vertikale Oper, die Vulkan-Oper, das Dante-Theater, Wagner; ein weiteres über die sowjetische Zivilisation, Erinnerungsspeicher, Künstlerarchiv etc.« Kabakov spricht von einem »Zentrum der kosmischen Energie« Alles sei fertig gewesen für die Realisierung: »eine große und lange Geschichte, ohne gutes Ende«. Die Gründe für das Scheitern sieht Kabakov, vielleicht etwas vereinfacht, im Wechsel der Landesregierung: »Eine Regierung sagt Ja, eine zweifelt, die nächste zweifelt noch mehr.« Da redet ein Kenner des russischen Reiches und des Sowjetimperiums.
Wieso spricht er eigentlich so gut Deutsch? Ilya Kabakov findet, dass er »ohne Regeln« spreche. Aber historisch bedingt. »In Moskau sagte unser Führer Stalin 1943/44, jede Schule müsse die feindliche Sprache lehren«. Kabakovs Art von Überlebenshumor. //
Museum am Ostwall, bis 27. Januar; Tel: 0231 / 50 232 47; www.museendortmund.de/museumamostwall