TEXT: ANDREAS WILINK
Zwei W-Fragen beschäftigen einen bei diesem Film. Die erste lässt sich leicht beantworten: Warum hat Pepe Danquardt diese Geschichte gedreht, basierend auf der Biografie von Yoram Fridman, wie sie der Autor Uri Olev in seinem Buch nacherzählt hat? Weil es ein großartiges Zeugnis menschlichen Überlebenswillens ist und ein Triumph des Opfern über die Täter. Am Ende, wenn die Spielfilm-Fiktion in dokumentarische Realität überwechselt, sehen wir den echten Yoram Fridman, einen älteren Herrn, an Israels Mittelmeerstrand mit seiner Frau, Sohn und Tochter und sechs Enkelkindern. Er sollte vernichtet werden. Aber er ist da – mit seiner Nachkommenschaft. Mit der zweiten Frage tut man sich schwer. Weshalb traut der Regisseur nicht dem, was er zeigt? Warum diese Musik, der süßliche Soundtrack, der sich über die Bilder legt und alles verklebt. Zu Herzen gehender, emotional bewegender kann eine Geschichte kaum sein. Sie hat Gefühlsverstärker nicht nötig und nicht verdient, schon gar nicht eine solche Weichspülung.
Srulik (die Zwillinge Andrzej und Kamil Tkacz) ist fast neun, als er vor den Deutschen aus Warschau und dem Ghetto flieht. Anders als seine Mutter und als sein Vater, der zu seinem Schutz die Verfolger auf sich lenkt und dabei getötet wird. Srulik geht in die Wälder, trifft andere versprengte Kinder, ist bald wieder allein, findet Unterschlupf bei einer Katholikin, deren Mann und Söhne bei den Partisanen stehen und die ihn zur Tarnung in christlicher Religion unterweist. Er muss fort, verdingt sich auf Bauernhöfen für Obdach und Essen. Kämpft sich durch Winter und Eiseskälte, wird von Polen (nicht alle waren Helfer, nicht alle waren Antisemiten) verraten und an die Wehrmacht ausgeliefert. Ein Offizier (Rainer Bock) lässt auf ihn schießen, um ihn aus einer Laune heraus doch zu schützen. Srulik, der sich längst als Jurek ausgibt, verliert einen Arm beim Unfall mit einer Mähmaschine und stirbt fast, weil ein Arzt sich weigert, den Juden zu behandeln. Neuerliche Denunziation, neuerliche Flucht, bis die Rote Armee einmarschiert. Und es die Lügen in den Zeiten des Kriegs nicht mehr braucht. Aber nun hat Srulik den Juden in sich begraben: die Schuld gegenüber dem Opfer des Vaters, die Angst, anders zu sein, die Entwurzelungsneurose haben ihn blockiert. Bis dann doch das unterdrückte Jiddisch aus ihm sprudelt und er zum »Kind Israels« wird. Was macht es, dass »Lauf Junge Lauf« aussieht wie von Artur Brauner produziert. Womöglich würde nicht nur Louis Begley die formale Konvention verzeihen und verstehen.
»Lauf Junge Lauf«; Regie: Pepe Danquardt; Darsteller: Andrzej und Kamil Tkacz, Elisabeth Duda, Itay Tiran, Zbigniew Zamachowski, Rainer Bock, Jeanette Hain; 108 Min.; D/P; Start: 17. April 2014.