Eine grandiose Zumutung ist dieses Buch. Erschöpfende 126 Seiten lang. Dabei von einer Intensität, die die deutschsprachige Literatur nicht häufig erreicht. In Hermann Peter Piwitts »Jahre unter ihnen« lässt jemand die Hosen herunter, die er lange nicht mehr gewaschen und nachts nicht mehr abgelegt hat. Den Körper des Erzählers überzieht am Ende eine zweite Haut aus Schuppen, Talg und Staub. Mit einer solchen Schutzschicht für sein feines Sensorium spaziert der Erzähler souverän durch »lückenlos glücklose Jahre«, flaniert durch eine ihm heillos erscheinende Gegenwart, bis er am Ende wie einst Nietzsche ein Pferd umarmt. Der verkannte Genius als stolzer Lebensverächter, ein aus dem Gleichgewicht geratener Rollenspieler, der »Ich« sagt: »Wer immer hier mal wieder den Rand nicht halten kann. Nennt ihn, wie ihr wollt. ›Ich‹: na toll. Es bleibt uns nichts erspart.« Nein, erspart bleibt uns wirklich nichts in diesem Roman, der in seiner Kürze überreich an Verfallsgeschichten ist. Zum einen werden die letzten Jahre des Alzheimerkranken Bruders skizziert. Einst ein erfolgreicher Architekt, nimmt er einen rasanten beruflichen Abstieg und zettelt auf seinem Weg zum »Entrücksein in die Trümmer der Proteine« einen Kleinkrieg mit Behörden und Banken an, ohne dass diese Feinde merken, dass ihr Gegner längst den Verstand verloren hat. Auf dessen Nachttisch findet der Erzähler ein Buch über Friedrich den Großen, aufgeschlagen an der Stelle, die von Hoffnung auf Rettung nach der verlorenen Schlacht handelt, nach der der erste Teil des Romans benannt ist: »Kunersdorf«. Davon ausgehend verzahnt Piwitt die Geschichte des Bruders mit der des gegen sein körperliches Siechtum ankämpfenden »Dynasten«. Jenes Zynikers, der seine Truppen in zahllosen Schlachten verheizt, weil den Überschuss an Menschen keine Nachfrage deckt. »Alles sieht wie immer aus: ein Schlachtfeld. Wenden wir uns ab, wo es nichts mehr zu sagen gibt.« So heißt es am Anfang des zweiten Teils, der denselben Titel trägt wie der Roman. Doch strebt das Erzählen hier nicht aus einem inneren Zwang dem Verstummen entgegen, geschweige denn folgt es einer Logik des Leidens. Gründe genug dafür gäbe es: Denn gleich dem Bruder und dem Preußenkönig, gerät auch der Erzähler auf abschüssige Bahn, als ihn seine Freundin Carla verlässt. Am Ende durchwühlt er, alkoholkrank und ohne Obdach, die Abfalleimer nach Pfandflaschen und leckt in Cafés Milchschaum aus zurückgelassenen Tassen. Eine ausweglose Geschichte, verschwenderisch präzis und unbestechlich beobachtet. Dabei von Piwitt immer in Schwebe und auf Distanz gehalten durch Hypothesen, die die Erinnerung als unverlässliche Zeugin erscheinen lassen. So ist »Jahre unter ihnen« ein Roman, der üppig vor verloschenem Glanz dieser Gattung ist, wie die Augen der Drogenabhängigen, die dem Erzähler begegnet, bevor man sie – in ein Betttuch gewickelt – im Kanal findet. Nicht ein verunglücktes Leben aber will in »Jahre unter ihnen« erzählt werden. Viel mehr ist es das Dasein als solches, gegen das der Erzähler anschreibt. »Man hat mich, ohne mich zu Rate zu ziehen, in die Welt gesetzt; sollte man mich hindern wollen, hinaus aus derselben zu gehen, wenn es mir hier nicht mehr darin gefällt?«, zitiert er Friedrich den Großen. Selbst drückt er es so aus: »Schließen wir die Fälle ab. Wieso überhaupt an Menschen noch ein Wort verloren? Daß man sich selbst am Hals hat: als ob das nicht reichte.« Wem die eigene Existenz keine Notwendigkeit ist, für den ist alles von Anfang an erledigt. Allein das Problem nicht, dass das Ende noch auf sich warten lässt. »Jahre unter ihnen« sei sein »autobiographischstes« Buch, zitiert der Verlag Hermann Peter Piwitt. Bewiesen hat Piwitt mit diesem Roman einmal mehr, dass ihm im Kreis der Autoren, deren mangelnder Bekanntheitsgrad seinen Grund unmöglich in der Güte ihrer Arbeit haben kann, ein Platz in vorderster Reihe zukommt. Das ist, nicht nur, weil Piwitt im letzten Jahr immerhin schon seinen 70. Geburtstag hinter sich gebracht hat, eine durchaus unangemessene Auszeichnung.
Hermann Peter Piwitt, Jahre unter ihnenWallstein Verlag,Göttingen 2006, 126 S., 16,- €