Text Sascha Westphal
Das Leben ist eine Baustelle. Das Theater erst recht. Das ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf geht, als ich mir unauffällig einen Platz in der dritten Reihe im Depot 2 des Schauspiels Köln suche. Vorn probt das Theaterkollektiv subbotnik an dem Musiktheaterabend »Geh hin, ich weiß nicht wohin – bring das, ich weiß nicht was«. Ein etwa sechs, sieben Meter breiter und mindestens drei Meter hoher Metallrahmen steht am Rand der Spielfläche. Vielleicht ein ironischer Hinweis auf die Theatersituation. Die Bühne als Fenster in eine andere, unbekannte Welt.
Eine andere Lesart liegt allerdings näher. Der Rahmen, selbst ein weithin sichtbares Zeichen des Unfertigen, vielleicht nie zu Vollendenden, gibt den Blick frei auf einen Bauzaun, der die Halle zerschneidet. Dahinter eine Holzkonstruktion, die mal ein Haus wird. Alles wirkt improvisiert, im Anfang begriffen. Selbst die fünf Klaviere, die im Raum verteilt stehen, umgibt etwas wie Verlorenheit. Sie sind zu viel und doch nicht genug. Diese Welt ist offensichtlich noch im Bau oder schon auf dem Weg in den Verfall. Wer will das sagen?
Alles scheint sich in diesen Proben-Augenblicken in der Schwebe zu befinden, der Raum und auch die Spielsituation. Kornelius Heidebrecht und Oleg Zhukov, zwei der drei Gründer der Gruppe, sitzen an einem weißen Küchentisch und sind in eine bizarre Szene vertieft. Es dauert ein wenig, sich zu orientieren. Schließlich eine Ahnung und viele offene Fragen – Baustellen des Lebens. Heidebrecht spielt Tante Luba, eine Ärztin, die ihrem Neffen Oleg Zhukov ihre Arbeit demonstriert. Irgendwann spricht sie statt von seinen Organen von seiner Aura und verweist dabei auf den etwas entfernt auf einem Rollbrett stehenden Henning Nierstenhöfer. Was für eine wundersame Idee, die Aura nimmt Gestalt an und wird für jeden lesbar. Als es heißt, dass etwas mit Oleg nicht stimme, krümmt sich Nierstenhöfer einfach.
Etwas später im Gespräch, mit Heidebrecht, Zhukov und Martin Kloepfer, dem Dritten im subbotnik-Bund, erzählt der aus Odessa stammende Zhukov, dass sich diese Szene tatsächlich so in etwa zugetragen habe, auch wenn er seine Aura nur auf einem Computerbildschirm betrachten konnte.
Im Frühsommer 2014, der Bürgerkrieg in der Ostukraine war gerade zum ersten Stillstand gekommen, haben die drei Theatermacher gemeinsam seine Heimat bereist. Eine Spurensuche unter außergewöhnlichen Bedingungen, die nun einen der beiden Erzählstränge ihrer ersten Arbeit am Schauspiel Köln bildet. Der zweite stammt aus dem titelgebenden russischen Märchen.
Der Zar hat ein Auge auf die Frau eines Soldaten geworfen. Um sich seines Nebenbuhlers zu entledigen, gibt er ihm mehrere Aufgaben und schickt ihn auf eine unbestimmte Reise. »Geh hin, ich weiß nicht wohin – bring das, ich weiß nicht was«, ist alles, was er dem Soldaten sagt. Ein unmöglicher Auftrag: und auch einer, der jedem irgendwie vertraut ist. Für Martin Kloepfer umschreibt der Märchentitel exakt »die Aufgabe, mit der man ins Leben geschickt wird«. Jeder Mensch geht im Lauf seiner Zeit auf »eine seltsame biografische Reise, die als Heldengeschichte beginnt«, aber kaum einmal so endet.
Abgebrochene, manchmal (wie bei dem Abenteuer-Traumspiel »Robinson Crusoe«) wörtlich im Sande verlaufende Heldengeschichten sind das Markenzeichen der Gruppe. Ihre Produktionen kreisen um Figuren, die ausziehen, die Welt zu erobern, und dabei abhanden kommen. Eichendorffs »Taugenichts«, Dostojewskis »Traum eines lächerlichen Menschen«, »Die weiße Insel«, die von einer gescheiterten Nordpol-Expedition schwedischer Wissenschaftler im ausgehenden 19. Jahrhundert erzählt, und nicht zuletzt »Lustdorf«, Zhukovs eigene Jugenderinnerung an einen Sommer in Odessa, alle beschreiben hoffnungsvolle Aufbrüche, die an kein Ziel führen.
Wenigstens die Wissenschaftler wissen, wohin sie gehen, aber auch das hilft ihnen nicht. Bei subbotnik sind sie Figuren im doppelten Sinn. Heidebrecht, Kloepfer und Zhukov spielen nicht die Forscher-Abenteurer, sie treten als Opernsänger im Frack auf, die ihrerseits von der tragischen Expedition erzählen. Die Grenzen zwischen den Liedern der Sänger und den Erzählungen der Forscher sind fließend. Die Ebenen verschränken sich, die Identitäten gehen verloren. Ein Polarforscher sagt in »Die weiße Insel«: »Die Menschen vermeiden Gefahren, indem sie zu Hause bleiben.« Aber Daheimbleiben ist auch keine Lösung. Welche Heldengeschichte lässt sich schon auf dem Sofa leben. Also geht’s doch nach Draußen, ins Ungewisse und Bruchstückhafte.
Subbotnik ist ein Begriff aus dem Russischen. Während des real existierenden Sozialismus bezeichnete er die gemeinnützige Arbeit, die Bürger der Sowjetunion und DDR an Samstagen leisten mussten. Versuche, beim Bau einer besseren Gesellschaft voranzukommen. Davon steckt auch etwas in den Produktionen der Gruppe. Nur geht es ihnen, die alles kollektiv entwickeln, nicht darum, etwas zu vollenden. Ihre Arbeiten verweisen auf den Prozess der Entstehung. Sie haben, so Kloepfer, »Lücken, die Luft lassen«.
Zu diesen Lücken gehört auch der offene Umgang mit unterschiedlichen Formen. Die Abende sind Spiel und Musiktheater, Live-Hörspiel und Performance. Der Musiker und Komponist Heidebrecht sagt: »Wir haben Band-Charakter, es geht darum, einfach mehr miteinander zu machen.« Theater aus dem Geist des Free Jazz. Perfektion ist subbotnik suspekt. Zu den Vorzügen der Arbeit am Stadttheater gehört, dass sie zu Beginn der Proben ein Klavier und einen Flügel gestellt bekommen, die vollkommen waren. Aber Heidebrecht und Co. klangen die Instrumente »zu schön, zu perfekt«. Also haben sie im Lager des Theaters nach einem kaputten Klavier gesucht. Leben und Theater bleiben Baustellen. Und Helden, die sich verlaufen, sind sympathischer als strahlende Heroen.
»Geh hin, ich weiß nicht wohin – bring das, ich weiß nicht was« Ein Musiktheaterabend von und mit subbotnik, Schauspiel Köln, Depot 2; 20. November 2015: Premiere; Auff.: 22. 27., 28. & 29. November.