TEXT: STEFANIE STADEL
Es ist frisch an diesem Vormittag, und im Sonnenschein ist der Anblick des heruntergekommenen Hallenbads nur halb so trostlos. Ende der 60er Jahre muss der Neubau auf der grünen Wiese ziemlich repräsentativ gewirkt haben in der blühenden Industriestadt. Damals zählte Marl zu den reichsten Kommunen der Republik. Dreißig Jahre später fehlte das Geld an allen Ecken – auch für die nötige Schwimmbad-Sanierung reichte es nicht. Die schicke Anlage wurde stillgelegt. Und weil Marl sich noch nicht einmal mehr den Abriss leisten kann, muss man dem einstigen Renommierstück seither beim Verfallen zusehen.
Für Lena Henkes Foto-Projekt ist es ein idealer Schauplatz – weil er viel sagt über die Stadt, ihre Geschichte. Über Menschen, die hier leben und Jugendliche, die sich hier langweilen. Kaum noch etwas werde ihnen in Marl geboten, so die Künstlerin. Kein Kino und noch nicht einmal ein Hallenbad.
Ein paar Wochen zuvor hatte die eigens angereiste Wahl-New-Yorkerin ein paar Teenager getroffen – beim Abhängen mit einem Joint auf der verrottenden Schwimmbadtreppe. Heute ist Henke mit ihrem Team zum Fototermin vor Ort. Auf der Wiese vor der Hallenbadruine soll es passieren: Hier wird die jugendliche Heldin der Lovestory ihrem Freund die ungewollte Schwangerschaft eröffnen, erläutert sie voll Elan. Etwas irritiert hört man der Künstlerin im dicken Daunenmantel zu. Ist die 1982 in Warburg Geborene nicht eigentlich Bildhauerin? Was für eine merkwürdige Geschichte erzählt sie da? Und warum hantieren ihre Assistenten derweil mit Fotoapparaten und zwei schweren Bronzeskulpturen auf dem Rasen herum?
Die Lösung des Rätsels klingt kurios: Henke hat sich von den unsäglichen Foto-Lovestorys in der Bravo inspirieren lassen. Für ihr künstlerisches Remake wählte sie allerdings keine Akteure aus Fleisch und Blut, sie ging zum Casting in die städtische Kunstsammlung. Dort fand sie etwa Marino Marinis »Danzatore« von 1954 – der Einmetervierzig-Mann aus Bronze übernimmt den Part des schwangeren Mädchens. Den Lover spielt Paul Dierkes hölzernes »Pferd« mit Kupferbeschlag. In weiteren Rollen wird man diverse Skulpturen aus Marls bemerkenswertem Fundus wiedersehen, zum Teil wurden sie per Sackkarre an diverse Stellen in der Stadt kutschiert.
Ende April will Henke den fertigen Foto-Comic im Museum Glaskasten präsentieren, wo ihre originelle Arbeit dann für immer bleiben soll. Als schönes Geschenk der Kunststiftung NRW, die 2014 ihren 25. Geburtstag begeht und aus diesem Anlass 25 ausgewählte Museen im Land großzügig mit neuen Stücken bedenkt. Henke ist unter den 25 internationalen Künstlern, die für das sympathische Jubiläumsprojekt mit dem schlichten Namen 25/25/25 ausgewählt und den einzelnen Häusern zugeordnet wurden.
Als Bildhauerin passt Henke sehr gut nach Marl, denn seit den 50er Jahren ist hier eine herausragende Sammlung meist zeitgenössischer Großskulpturen gewachsen, die bis heute das Stadtbild bereichert. Rund hundert Kunstwerke finden sich da um Rathaus und City-See verstreut. Sie liegen gewunden auf Plätzen, wie die wuchtige »Naturmaschine« des Künstlerpaars Matschinsky-Denninghoff. Oder sie lagern gelassen am Ufer wie Hans Arps ruhendes Blatt. Manche geben sich monumental wie Richard Serras gestapelte Corten-Stahl-Blöcke, andere eher zerbrechlich wie Ossip Zadkines »Großer Orpheus«.
Die meisten trifft man unter freiem Himmel, einige sitzen aber auch hinter Glas im 1982 gegründeten Museum, das seinen Namen nicht umsonst trägt. Denn eigentlich ist es bloß ein einziger, recht nüchterner gänzlich von Fenstern umgebener Raum, der sich gleichsam versteckt unter dem großen Sitzungstrakt des in den 60ern erbauten Marler Rathauses. Hier war einmal ein Reisebüro untergebracht. Heute lädt der Glaskasten zum Kurz-Trip durch die Skulptur der Moderne.
Mit von der Partie sind etwa ein cooler Messingkopf von Rudolf Belling, Alberto Giacometti mit seinem in eine Bronzescheibe eingeschriebenen Frauentorso. Oder auch Wolf Vostells Crash mit Ami-Schlitten und ausgestopftem Kalb. Unter all den Promis wird demnächst auch Lena Henkes Lovestory ihren Platz einnehmen – samt »Tänzer« und »Pferd«. Ob die Geschichte ein Happy–End findet? Es wird sich zeigen. Was Marl und die Geschichte seines Glaskastens angeht, so kann man nur hoffen – dass es dem schönen Museum dereinst nicht genauso ergeht wie dem schicken Schwimmbad auf der grünen Wiese.
Die Präsentation der Arbeit von Lena Henke eröffnet am 27. April 2014 um 12 Uhr im Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl.