// Das Diskrepant-Faszinierende an Bahnhöfen und ihrer Steigerung, den Flughäfen, ist, dass sie, die das Transitorische beherbergen wollen, ihm zugleich Widerstand leisten: So offensichtlich wie ihre Architektur Anspruch auf Ortsbestimmung und Raumbeherrschung erhebt. Vor allem moderne Großflughäfen gleichen Malls, Palästen, Städten – sind Orte, die nicht gestreift werden wollen, in denen geblieben werden soll. Aus denen heraus kein Weiter notwendig, vielleicht kein Entkommen möglich ist. Sie sind »Hallen ohne Zeit«, wie es gleich eingangs von Angelika Overaths neuem Roman »Flughafenfische« heißt: »ein weiter, unabsehbarer Raum aus Glas, Metall, schwarzglitzerndem Marmor. Da wo die Deckenlichter auf die silbernen Einsprengsel im Stein trafen, leuchteten sie momenthaft auf wie bunte Sterne, und der Boden kippte ins Firmament.« Der Airport: die Welt.
Hier kreuzen sich die Zeitzonen und Reiselinien, hier gleiten Menschen über Rolltreppen, ihre Besitztümer über Förderbänder, berühren sich Blicke für ein Nichts an Zeit und Schicksale für den Moment einer unabsichtlichen Berührung. Das tausendfache Beieinander und immer Aneinandervorbei als Lebensform. Der Flughafen ein Kosmos, in dem es nur einen Halt gibt, eine Beständigkeit: die Hülle.
Wie in einem Aquarium. Und tatsächlich ist diese Parallele überzeugend, auch wenn das Medium ein so anderes ist. Schnelle Schwärme, stille Einzelne, Exoten, Rastlose, Suchende – die Menschen in diesem gewaltigen Flughafen (dessen Name uns nicht genannt wird) gleichen dem Gleiten der Fische in dem Meerwasseraquarium, das die Betreibergesellschaft als die Reisegemüter beruhigende Attraktion im »Flight Connection Centre« zwischen dem Einkaufsareal und der Ruhezone aufgestellt hat. Der Herr der künstlichen Riffwelt mit ihren Korallen, Anemonen, Algen, Muscheln, Krebsen, Fischen, dem großen Rochen und vor allem den kleinen Seepferdchen ist Tobias, der »Aquarist«. Er sieht die Schwärme der Reisenden im doppelten Sinne durch die Linse seines Aquariums »als ein schwimmendes Muster, als eine in sich bewegte Wassertapete«. Er als einziger ist nicht unterwegs. Er beobachtet, pflegt, lernt. Und es geht ihm gut in der Beschränkung.
Das ist der stille Blick. Den schnellen, hastigen, alles erfassend-durchschauenden hat Elis, die Fotografin, die aus irgendeinem Asien kommend durch irgendein Gateway in diesen Transitraum gespült wird. Sie ist ein Kraftfeld, gespeist von Flüchtigkeiten, an- und ausgeschaltet von den Reizen um sie herum. Erfolgreich, verlassen, verloren, durch einen ewigen Jetlag in einen Wirbel von Wahrnehmung und Erinnerung versetzt. Mit ihr treibt der Leser durch den Glanz und die Stumpfheit des Flughafens, das elektrische Glück der »Varimobilen«. Mit Elis sind wir in einer Wolke aus Fahrradfahrern in China und in einem futuristischen Hochhaus voller einander Unbekannter in Manweißnichtwo. Mit Tobias treten wir ein in die Geborgenheit des Fassbaren, Ortsfesten, langsam Wachsenden und der Sorge Anheimgegebenen. Durch die 200.000 Salzwasserliter des Aquariums hindurch begegnen sich Elis flackernder und Tobias’ stiller Blick. Aber es wird keine Liebesgeschichte daraus, dieser Gefahr entgeht Overath so souverän, wie sie die an und für sich abgegriffene Flughafenmetapher wieder zu einem literarischen Neuland zu machen versteht, dessen Bewohner – die Raucher; die Gäste der Edelschnellrestaurants; die urlaubenden Familien; die Paare; die nomadischen Laptopsklaven; die alleinreisenden Frauen – den Leser nach ein paar Dutzend Seiten so fremd und selbstverständlich umfließen, als sei er selbst Teil dieser Unterwasserwelt.
Es gibt neben Tobias und Elis noch einen dritten Protagonisten, einen alternden, aus Klischees gepressten Mann, eine überflüssige Figur, ein Fischstäbchen im ansonsten so reichen Aquarium des Buchs – vergessen wir ihn. Denn die Qualität dieses kleinen Romans ist etwas sehr Eigenes: die stahlharte, glasklare, marmorkühle Beschreibung des Flüchtigen. Primär sind hier die Dinge und Strukturen: die funktionalen Architekturen; die Beförderungs- und Verköstigungsmaschinen; die Checks und Kontrollchoreografien, denen die Menschen eingeschrieben sind. (Und dies, ohne dass dekonstruktivistische Literaturtheorien die Blaupause abgäben.) Das erzeugt einen seltsamen Sound. Den hat man lange nach dem Lesen wie Wellenrauschen im Ohr. //
Angelika Overath: »Flughafenfische«. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 174 S., 17,95 €.