Zwölf Meter bis zu einer Posaune nach vorne, drei Meter zu allen anderen Seiten – so groß müsste der Abstand zwischen Musikern und Zuhörern sein, hieß es kürzlich von Experten. Erst dann gebe es keinerlei Ansteckungsgefahr. Wenig später räumten Ärzte der Berliner Charité ein, 1,5 Meter Abstand würden völlig reichen. Selbst bei den Blechbläsern oder der Querflöte, die kurzfristig als regelrechte Virenschleudern in die Diskussion gerieten. Orchestermusik als Gefahr für die Gesundheit? Sicher ist: Die Corona-Pandemie hat einiges auf den Kopf gestellt, nicht nur die Abläufe im Kulturbetrieb. Derlei Abstandsregelungen dürften im Orchestergraben jedenfalls kaum zu realisieren sein. Vielleicht gerade noch bei der Aufführung von Barock-Opern, weil da die Originalbesetzungen klein sind. Wie weit ein Orchester im Konzert aber tatsächlich mit Abstand als »Klangkörper« funktionieren kann, bleibt abzuwarten.
Von 92 Plätzen würden nur 12 belegt
Die Theater, Opernhäuser und Kinos dürfen offiziell wieder öffnen. Die Frage aber ist nun: wie? Denn die Auflagen sind hoch: In Proberäumen werden nun mindestens 20 Quadratmeter pro beteiligter Person gefordert. Das dürfte in vielen Häusern kaum zu realisieren sein. Die größten Einschränkungen gibt es im Foyer: Auch hier müssen die Abstände gesichert sein, bis in die Toiletten hinein. Ein Thekenverkauf ist grundsätzlich nicht erlaubt, der Pausensekt fällt also weg und im Zuschauerraum müssen die meisten Plätze leer bleiben. »Nach einer vorläufigen Berechnung können wir von unseren 92 Plätzen im Normalbetrieb vermutlich nur 12 besetzen«, erzählt Hans Dreher, künstlerischer Leiter des Prinz Regent Theaters in Bochum. Ein paar mehr könnten es werden, wenn Paare, Familien oder Wohngemeinschaften im Publikum sind, da Menschen aus dem gleichen Haushalt direkt nebeneinander sitzen dürfen. Das wäre an jedem Spielabend aber eine neue logistische Herausforderung. In Stößels Komödie in Wuppertal wären von sonst 164 Gästen nur 29 möglich. »Selbst wenn wir es schaffen, alle Auflagen zu erfüllen und öffnen würden, müssten wir für ein Ticket bei dieser Bestuhlung und mit einem Solostück mindestens 78 Euro pro Person nehmen«, schreibt Betreiber Kristof Stößel auf seiner Facebookseite. Denn auch die »lebenswichtige Gastronomie« bliebe ja geschlossen.
Trotzdem erarbeitet das Prinz Regent Theater in Bochum gerade mit Hochdruck einen Plan, um den Spielbetrieb wiederaufzunehmen – im September. »Unser Auftrag ist es, Theater zu spielen«, sagt Dreher, »aber es gibt extrem viele Auflagen, die die Sicherheit des Publikums und der Beteiligten gewährleisten sollen und es ist nicht gesagt, dass wir diese alle erfüllen können«. In der freien Szene sind Solo-Stücke oder in kleiner Besetzung weit verbreitet, aber das freie Bochumer Theater hat keine Produktion, die es ohne Änderungen zeigen könnte. Ob die notwendigen Änderungen dann auch künstlerisch vertretbar sind, muss das Theater nun von Fall zu Fall entscheiden.
Viele Filmstarts lassen auf sich warten
Und in den Kinos? Im Vorstellungsbetrieb ist ihr Personalaufwand gering und zumindest die großen Häuser verfügen meist über ausreichend Platz auch in den Erschließungsbereichen. Allein, ihnen fehlt gerade das, was gezeigt werden kann: Die Verleihe haben viele Film-Premieren zurückgezogen und werden kaum bereit sein, das wichtige Geschäft der ersten Woche nach Filmstart zu verlieren, weil Säle nicht ausverkauft werden dürfen.
»Zumindest zu Beginn der Saison 2020/21 ist damit zu rechnen, dass nur Abonnenten in den Genuss von Livekonzerten kommen werden«, teilte indes die Düsseldorfer Tonhalle mit. Einzelkartenverkäufe würden wohl erst wieder möglich, wenn entsprechende Publikumsgrößen gestattet sind. Sollten im jeweils tagesaktuell gültigen »Corona-Saalplan« nicht alle Abonnenten in den Konzerten unterzubringen sein, wären auch Sonderspieltage und Konzertdoppelungen an einem Spieltag denkbar.
Vor allem die großen Bühnenhäuser in NRW bleiben auch nach den Lockerungen bei ihre Entschluss, erst mit dem Start der Spielzeit im September wieder zu öffnen. Das klingt zunächst merkwürdig, schließlich hatten sie anfangs sehr schnell auf die neuen Gegebenheiten reagiert, ihre Schneidereien umgerüstet, um »Mund-Nasen-Schutze« zu nähen, kleine Open-Air-Konzerte organisiert und Video-Aufnahmen von Inszenierungen ins Netz gestellt. Anfang Mai drängten dann auf Initiative des Theaters Dortmund sogar sieben Opernhäuser aus NRW die Landesregierung auf einen realistischen Zeitplan für den Wiedereinstieg in den Spielbetrieb. Die plötzlichen Lockerungen wirkten aber nicht wirklich wie eine Antwort und zumindest ziemlich überhastet. Deshalb bleiben die Häuser etwa in Düsseldorf oder Dortmund zu. Nur die Theater in Hagen, Krefeld/Mönchengladbach und Bielefeld arbeiten an kleineren Veranstaltungen wie Liederabenden, Soloprogrammen und Konzerten im Juni – immer unter dem Vorbehalt, dass die Hygienekonzepte der Häuser auch von den Städten genehmigt werden. Konkrete Termine werden daher erst kurzfristig über die Internetseiten der jeweiligen Häuser bekannt gegeben. Das Bochumer Schauspielhaus feiert am 10. Juni tatsächlich eine Premiere: Dann ist Elias Canettis »Die Befristeten« zu sehen – sozusagen unter besonderen Umständen inszeniert.
Das Ensemble Musikfabrik in der Waschkaue
»Künstler*innen sind es eigentlich gewohnt, mit labilen Situationen umzugehen«, sagt Stefan Hilterhaus, künstlerischer Leiter von PACT Zollverein in Essen. »Experten für Krisensituationen« nennt er sie. Dank der mehrgleisigen Aufstellung seines Hauses, konnten künstlerische Prozesse hier immer weiter laufen. Jetzt gilt es auch auf PACT zu planen, wie der öffentlichen Betrieb wieder starten kann. Der Erlass des Landes fordert, dass dafür ein Konzept »vorliegen« müsse. Ob es auch behördlich genehmigt werden muss, von Ordnungs- oder Gesundheitsamt? Das ist unklar. Der gleiche Erlass erlaubt Veranstaltungen bis 100 Personen. Die Abstandsregeln würden aber nur 40 Besucher im Saal, der sonst 300 fasst, zulassen. Dennoch ist Hilterhaus optimistisch, zumindest im Juni schon wieder ein Konzert des Ensemble Musikfabrik zeigen zu können. Die räumlichen Gegebenheiten der ehemaligen Waschkaue bieten eigentlich ganz gute Möglichkeiten. Für den Herbst sind bereits Eigenproduktionen von Meg Stuart und Kate McIntosh in Planung, die nun aber mit völlig veränderten Raumkonzepten der Situation angepasst werden.
Die große Frage ist also auch: Was werden wir sehen, wenn es wieder etwas zu sehen gibt? Kay Voges, scheidender Intendant des Dortmunder Schauspiels, befürchtet bereits eine Schwemme von Quarantäne-Stücken. Auch das gerade von der Kulturstiftung des Bundes aufgelegte Stipendienprogramm für die freie Szene fordert die Beschäftigung mit Corona. »Was hat diese Krise sichtbar werden lassen?«, fragt denn auch Hilterhaus. In gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht, in ökonomischer wie globaler. Und nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Kultur. Systemrelevant ist sie nicht. Das war auch vorher schon bekannt. Zu den gesellschaftlichen Fragen, die Corona aufgeworfen hat, hätte sie aber sicher mehr zu sagen als ein Fußballspiel…