1300 Seiten in zwei Bänden, einer blau, einer rot. Ein Lebenswerk. Texte zuhauf (manches wohl auch repetitiv), die aus unterschiedlichster Perspektive zwar, aber in der Summe vom Ethos des Theaters erzählen (fast würde man sagen; künden – denn es liegt durchaus etwas von Botschaft und Messianischem darin). Bilder, die Vergangenes aufrufen und in der Summe eine ästhetische Bilanz ziehen. »Der fremde Blick – Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr« resümiert sechs Jahrzehnte des Theatermachers und vier Jahrzehnte eines Modells – der Wanderzirkus dieses Theaters mit fester Adresse –, das singulär geblieben ist in der deutschsprachigen Bühnenlandschaft.
Vergleichbar vielleicht nur mit dem Wuppertaler Tanztheater, das – wir sehen es in den Versuchen, es lebendig zu erhalten – so unbedingt mit Pina Bausch verbunden war, dass die Leerstelle nicht zu füllen ist. Das Theater an der Ruhr ohne Ciulli? Ebenso wenig. In dieser Einschätzung und dieser Besonderheit liegt womöglich auch eine Schwäche der Konstruktion. Das vitale Zentrum, das zugleich selbst exzentrisch ist, braucht und verträgt keine Satelliten.
Arbeitsbuch, Werkstattbericht und Materialsammlung, aus dem Innen heraus und gesehen mit dem kritischen Außenblick: gefüllt mit Rezensionen (auch Verrissen), Gesprächen (unter anderem auch aus der kultur.west-Geschichte wie hier mit Herbert Fritsch), Resümees und Reflexionen, Reisebildern, Tagebucheinträgen, Briefen, Preisreden – und dem Gesellschaftsvertrag mit der Stadt Mülheim.
Ciulli wurde am 1. April 1934 in Mailand geboren. Er promovierte über Hegel, spielte Zelttheater, ging 1965 nach Deutschland, schuftete als Gastarbeiter, wurde Regisseur am Theater Göttingen und dort für Köln entdeckt, wo er zusammen mit Hansgünther Heyme von 1972 bis 1979 Schauspieldirektor war, um dann nach Düsseldorf zu wechseln und dort am Gründgens-Platz seine eigene Zelle zu bilden (ein weiteres Porträt über Ciulli finden Sie hier).
Unkonventionelles Anti-Theater in Mülheim
Der Kollektivgedanke, der damals in der Luft lag, ließ ihn nicht mehr los. Ein anderes System, weg von den festen und starren Strukturen des Stadttheaters, hin zu mobilen und ambulanten Formen. So gründete er seine eigene Schaubühne, im Team mit dem scharfsinnigen Dramaturgen Helmut Schäfer und dem 2018 verstorbenen Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben. Das Theater an der Ruhr als unkonventionelles, Kontinuität und Autonomie behauptendes Anti-Theater spielte lange in der örtlichen Stadthalle, bis die Truppe endlich am Raffelberg im ehemaligen Badehaus ihr schönes Domizil fand.
Ciulli und die Seinen haben das Kunststück geschafft, Tradition, Intellektualität, Theatertheorie und politische Aufklärung aus dem Geist von 68 mit Volkstümlichkeit und elementarer Bilderlust zu paaren. Zugleich Zauberer und Entzauberer zu sein, Visionäre und Pessimisten. Einer seiner Lehrmeister war der Landsmann Giorgio Strehler.
Ciulli und die Clowns
Am schönsten ist es, wenn Ciulli von den Clowns erzählt, dem Weißclown und Rotclown, dem Herrn und dem Knecht. Was sich übersetzen lässt in: Intellekt und Emotion, Geist und Trieb. Damit hat man die ganze Welt erfasst – und das ganze Theater, nicht erst seit der Commedia dell’Arte, die dem Italiener naturgemäß besonders am Herzen lag.
Bevor der Begriff zur Leitformel wurde und zur Praxis, hat das Theater an der Ruhr sich als multikulturell begriffen. Man ging eine Liaison mit dem Sinti-Theater Pralipe ein, arbeitete mit dem türkischen Nationaltheater Ankara zusammen, lädt die Welt an die Ruhr und geht auf Tour. Große Nähe verband Ciulli mit der jugoslawischen Ausnahme-Schauspielerin Gordana Kosanovic, die 1986 früh verstarb. Ciulli & Company waren Entdecker verschlossener Theaterkontinente. Sie gastierten in Polen, Belgrad, im Iran, passierten die Seidenstraße bis nach Hinter-Asien, bereisten Südamerika, an die 40 Länder stehen auf der Liste. In ihrem Blick lag nie westlich abendländische Vorherrschaft. Ihr anders fremder Blick schafft Nähe.
Büchner, Brecht und Beckett
Unmöglich, all die im engsten Dialog mit dem Ensemble und dessen »Autorenschaft« entstandenen, Prozesscharakter tragenden Inszenierungen Ciullis aufzuzählen: grandiose wie »Lulu«, »Der Zyklop«, »Alkestis« und »Elektra« nach Euripides; Aufführungen von Shakespeare, Goldoni, Pirandello, Lorca, Tschechows in einem Schrank einsitzende »Drei Schwestern«, Büchner, Brecht und Beckett, Gorki, Sartre und Peter Weiss. Es gab Phasen der Melancholie des Stillstands in Mülheim. Plötzlich dann überrascht wieder das Spontane, Offene, Gefährdete, Riskante.
Der Zirkus ist die ihm liebste konkrete Metapher – auf einem Foto sitzt Roberto Ciulli auf einem Schaukelpferd, das, wenn es mit Münzen gefüttert wird, in mechanische Bewegung gerät: Er sitzt sattelfest. Und noch ein sprechendes Bild. Das Signet des Theaters ist ein blaues Verkehrsschild mit einem geradeaus zeigenden Pfeil und einem links (!) abbiegenden – der führt zum »Theater a. d. Ruhr«.
»Der fremde Blick – Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr«. Herausgegeben von Alexander Wewerka und Jonas Tinius, Alexander Verlag, Berlin 2020, zwei Bände, 450 Abb., 1280 Seiten, 35 Euro.