TEXT: ULRICH DEUTER
Die Piraten rauchen. Sie stehen vor der Tür des »Wasser« im Kreis und genießen ihre Selbstgedrehten. Die Piraten sehen freundlich aus. Ungefährlich. Niedlich manche: riesengroß gewachsen, schlaksig, rosig im Gesicht. Pummelig andere mit Teddybärencharme. Sie tragen T-Shirts in Schwarz oder Orange mit dem Piraten-Logo drauf: einer geblähten Fahne am Mast. Oder sie tragen Kapuzensweatshirts, Jeans und Cargohosen. Jungs allesamt.
Jeden Donnerstag ab 18:30 Uhr tagt der Dortmunder Stammtisch der Piratenpartei im »Wasser«. Der Name der Kneipe könnte treffender nicht sein für eine Partei, die aus der meerweiten Grenzenlosigkeit des Internets unbemerkt herangesurft ist und nun auf einmal tausendfach ruft: »Klarmachen zum Ändern«. Zwei Prozent Stimmen haben die Piraten bei der Bundestagswahl erobern können, bei der Kommunalwahl in NRW enterten sie je ein Ratsmandat in Aachen und Münster. Über 1600 Mitglieder zählt mittlerweile der Landesverband, über 10.000 die Gesamtpartei. Tendenz steigend. Nun bereiten die Piraten sich auf die Landtagswahl im kommenden Mai vor. Heute Abend will der Ortsverein Dortmund im »Wasser« die Direktkandidaten für die drei Wahlkreise der Revierstadt berufen.
»Ortsverein« stimmt nicht. Noch sind die Piraten davon überzeugt, dass sie ganz anders sind als die anderen Parteien. Vollkommen transparent. Vollkommen basisdemokratisch. Der Landesverband NRW ist darum basal in »Crews« organisiert, Gruppen, die zwischen fünf und neun Personen stark sind und sich regelmäßig »an realen oder virtuellen Orten« treffen. Bei mehr als neun teilt sich die Zelle. Ein Globalisierungskritikerorganisationsprinzip sei das, belehrt uns das entsprechende Wiki – die offene Website – der Partei. Ein Prinzip ist es, das die unbegrenzte Gestaltungsmöglichkeit des Digitalen zum Vorbild hat, an dessen alles versprechender, nie strafender Brust die Protagonisten der Piratenpartei genährt wurden. Ein Prinzip, das an der nichtdigitalen Wirklichkeit scheitern wird.
Die zwei Crews, die in Dortmund existieren, heißen Jolly Rogers und LeChuck. »LeChuck ist der Gegenspieler von Guybrush Threepwood aus den Spielen der Monkey-Island-Serie«, erläutert die Crew-Website. Was die Monkey-Island-Serie ist, ist für die Peer Group der Piraten offenbar so selbstverständlich wie ein Raider für die Generation Golf. Die Mitglieder von Jolly Rogers – der englische Name für Piratenflaggen – heißen telsh, thorres, trashdot, snyder, Terror, Schwarzbart und Abraxas. Im Vorfeld der NRW-Landtagswahl versucht die Piratenpartei nichts so sehr, wie aus der tageslichtscheuen, pizzakartonverschmutzten Ecke der Internetfreaks herauszukommen. Sie will die Partei für die Freiheitsrechte sein. Die Partei für den Anspruch auf schrankenlos verfügbares Wissen. Neuerdings auch für Bildung. Noch aber ist sie die Partei derer, für die das Internet keine nützliche Maschine, sondern eine Lebensform ist, die es gegen Angriffe von Seiten des Staates – Urheberrecht; Internetsperre – zu verteidigen gilt. Partei derer, für die die virtuelle Identität eines Internet-Nicknames an erster Stelle steht.
Der gegenwärtige Erfolg der Piratenpartei ist nicht zufällig. Er ist eine Reaktion auf die in letzter Zeit stark gewachsenen Versuche, den Urwald des Digitalen und vor allem des Internets zu zivilisieren. Zivilisation heißt, Regeln aufstellen. Spricht man mit Piraten, so ist ihre Sympathie für die einschränkungslose Verfügbarkeit von allem, was digital verfügbar sein könnte, unverhohlen. Auch fürs Raubkopieren – allen anderslautenden offiziellen Bekundungen der Piratenpartei zum Trotz. Dass es für kompliziertere Werke kompliziertere Verwertungsketten geben muss als die der zwei simplen Glieder Künstler und Rezipient, ist den Piraten nicht zu erklären. Für sie gibt es hier den Kreativen (in ihrer Vorstellung ein Pop-Musiker), dort den Konsumenten (in ihrer Vorstellung ein Internet-User). Jeden Verwerter, der sich zwischen diese beiden drängt, gilt es zu schwächen. An sein Geld kommt der Künstler durch Spenden oder eine Kultur-Flatrate. Der Einwand, dass sich die allermeisten Buchverlage beispielsweise nur knapp über Wasser halten können, löst Irritation bei Piraten aus. Piraten lachen empört, wenn jemand übers Internet befinden will, aber nicht weiß, was ein Browser ist (wie weiland Angela Merkel). Aber Piraten wissen ihrerseits nichts über die außerinternetliche Wirklichkeit, etwa die der Kulturproduktion.
Aber auch wenn die Piraten zum Gutteil Spätjugendliche sind, die ihre Lebensform und deren Spielzeuge gegen die Erwachsenen verteidigen, so repräsentieren sie doch gleichzeitig die Schaumkrone auf der mächtigen Welle einer Bewegung, die den demokratischen Grundgedanken: erst der Einzelne, dann der Staat, auf neue Weise durchzusetzen versucht. Bereits jetzt nehmen Politiker aller etablierten Parteien die Piraten ernst. Entern zurück und klauen ihnen die Ideen.
Es ist 19:15 Uhr, der Stammtisch der Dortmunder Piraten will und will nicht beginnen. Alle Sitzungen der Piratenpartei sind öffentlich, auch ein Journalist ist gern gesehen. Jeder mag mit ihm reden. Schwarzbart ist Direktkandidatenkandidat und stellt mir am Tresen seine Bildungsziele vor. Er hat sich für das Modell entschieden, das in Hamburg zwischen CDU und Grünen ausgehandelt wurde. Schwarzbart hat eigentlich keine Ahnung von Bildungspolitik, aber da die Partei keine Einthemenpartei mehr sein will, muss jemand die Erweiterung des Spektrums übernehmen. Später zeigt sich, alle Kandidaten machen in Bildung: Offenbar formieren sich Ansätze einer Parteidisziplin. 19:30 Uhr, Sqampy, ein Junge mit dem Aussehen eines typischen Internet-Nerds, hat Schwarzbart abgelöst und beschwert sich in nicht endendem Redefluss darüber, dass die Piratenpartei in der Öffentlichkeit ganz falsch gesehen werde, nämlich als Partei von Internet-Nerds. Nur bei der Frage, ob die Massendigitalisierung von Büchern durch Google nicht einen unkontrollierbaren Monopolisten kreieren werde, stockt der Wortschwall: Tja, windet sich Sqampy, das ist schwierig. Man kann Firmen wie Google eben schlecht kontrollieren. Subtext: Was in den freien Weiten des Internets passiert, kann eigentlich nicht schlecht sein. In Typen wie Sqampy zeigt sich die Piratenpartei als Lobbyverein der internetbasierten Industrie. Von denen sie, verrät Sqampy treuherzig, mit Sachspenden unterstützt wird.
Es ist 19:45 Uhr, irgendwie unmerklich hat die Sitzung begonnen. Von den etwa 90 Dortmunder Piraten sind 30 anwesend, drei davon Frauen: Die Piraten sind bis hinauf zum Bundesvorstand eine fast reine Männerpartei. DS187, auch Sandos genannt, steht an einem Stehtisch und eröffnet die Versammlung. Die Tagesordnung haben alle im Wiki gelesen, die Geschäftsordnung aber halten sie altmodisch gedruckt in Händen. DS187 wird zum Versammlungsleiter gewählt, darauf folgt die Wahl des Protokollanten, darauf die Wahl des Wahlleiters – alles mit bemüht artiger Folgsamkeit gegenüber dem Gesetz. Alles in gelöster Stimmung bei gleichzeitig bemerkenswerter Zügigkeit: Jeder Einwand wird mit einem Lächeln vorgetragen, jedes stimmliche Durcheinander verebbt überraschend rasch. Meist ist die Wahl einstimmig, was einmal den Ruf: »Das klappt ja schon wie bei der CDU!« und fröhliches Gelächter hervorruft. Ihr enormer Erfolg bläht den Piraten die Segel. Aber er steigt ihnen nicht zu Kopf, macht keinen von ihnen hochnäsig oder selbstgefällig. Sie bieten einen beinah kindlichen Eifer auf, eine oft kindlich reine Sicht der Dinge. Diese so uneitlen, so betont unmodischen jungen Menschen – drei ältere sind dabei –, sie tun einem fast leid, weil ihre in der ozeanischen Badewanne des Internets gewachsene Freiheitslust, ihr Glaube, dass guter Wille so sicher wirkt wie ein gut geschriebenes Programm, demnächst an den Felsen der politischen Realität zerschellen wird. Angenehm ihre selbstironische Unaufgeregtheit, die so ganz anders ist als das eifernde, weltverbessernde Pathos der Grünen zu deren Anfängen in den 70er Jahren.
Von diesen 70ern ist nur das bunte Retrodesign im Hinterzimmer des »Wasser« geblieben, wo sich jetzt Schwarzbart und sein Gegenkandidat Parmenion1982 als Kandidaten für die Landtagswahl präsentieren. Ein wenig nebenbei kommt heraus, wie die beiden wirklich heißen, wobei Parmenion gar nicht anwesend ist und sich von Jens.B vertreten lässt – eine für Bewohner virtueller Räume offenbar nicht weiter befremdliche Tatsache. Schwarzbart breitet noch einmal sein Hamburger Modell aus, sein Kontrahent tritt sonderbarerweise für mehr Polizeipräsenz im öffentlichen Raum ein. Dann wird zur Wahl gerufen. Es ist 21 Uhr.
Aber die Wahl bleibt aus. Der Mobildrucker, der die nötigen Wahlscheine fabrizieren soll, versagt den Dienst. Eine Batterie von Laptops, ein Dutzend tippender Computerfreaks, zwei nach und nach herbeigeschaffte Ersatzdrucker – nichts hilft. Was die Laune nicht trübt, ja nicht mal Verlegenheit hervorruft in einer Partei, deren Mitglieder ausweislich aller Listen überwiegend IT-Spezialisten sind. Wie in einer unverhofft verlängerten Großen Pause stehen alle in Grüppchen beisammen und lassen die Meinungen floaten: Wir müssen die Gewichtung von Basisdemokratie und Hierarchie noch besser hinkriegen. – Wie viele bezahlte Posten hat die SPD eigentlich auf Landesebene? – Nein, man darf keine Wahlscheine mit der Hand herstellen. – Haben wir in Münster aber gemacht! – Wieso wird behauptet, dass wir keine soziale Bewegung repräsentieren? Der Wirt des »Wasser« ist sehr freundlich, das Essen und Trinken sehr preiswert. Nächstes Mal müssen wir eine Checkliste machen, mahnt einer. Wir haben ja Zeit bis März, beruhigt ein anderer. Dann gehen die ersten Dortmunder Piraten nach Haus. Es ist 22:15 Uhr. Ich schließe mich an.
Kurz darauf muss es dann doch weitergegangen sein. Im Wiki ist am nächsten Morgen bereits alles zu lesen: John Martin Ungar hat die Wahl gegen Markus Gerling gewonnen. Auch die anderen beiden Direktkandidaten wurden erkoren, Menschen mit normalen Namen.
Von Internet-Nicknames keine Spur.
http://wiki.piratenpartei.de