INTERVIEW: ANDREAS WILINK
Thomas Ostermeier inszeniert Yasmina Reza: erstmals. Seit 1999 künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne, wurde der 46-Jährige vor allem mit seinen Regie-Arbeiten neuer britischer Dramatik in der »Baracke« des Deutschen Theaters zum Shootingstar. 50 Inszenierungen und viele Auszeichnungen später, darunter der Goldene Löwe von Venedig, der Europäische Theaterpreis, fünf Einladungen zum Berliner Theatertreffen und Commandeur dans l’Ordre des Arts et des Lettres für den zumal in Paris und Avignon hochgeschätzten Regisseur, kommt es zum deutsch-französischen Dialog.
K.WEST: Herr Ostermeier, erkennen Sie sich selbst in den Figuren der Yasmina Reza – dem Missbehagen, komfortablen Krisen-Symptomen, dem unglücklichen Bewusstsein?
OSTERMEIER: Durchgängig. Und bei allen Figuren.
K.WEST: Es gibt keine Sieger auf diesem zivilisierten bürgerlichen Schlachtfeld.
OSTERMEIER: Aber es gibt unterschiedliche Ausprägungen des Unglücks. Bis hin zur Figur von Yvonne, der Mutter, und ihrer Demenz-Krankheit, wobei man davon kaum noch sprechen mag angesichts der Tatsache, dass dieses Krankheitsbild durch alle Boulevardmedien geistert. Die Figur der Yvonne konfrontiert uns mit der Vergänglichkeit – ein Thema, das auch mich beschäftigt. Das Drama dieser Figur besteht darin, dass der Geist sich bei körperlich passabler Verfassung verabschiedet. Reza ist explizit in den Altersangaben, vier der Figuren sind zwischen 40 und 45. Das deutet auf eine mögliche Fragestellung: Wo stehe ich in der Mitte des Lebens; was hält es noch an Glück und Unglück für mich bereit? Das eine Paar spricht davon, es befinde sich in seiner Beziehung noch in der Testphase. Sollte das Ergebnis negativ ausfallen, wie viele Testphasen hat man dann noch? Das lateinische Vanitas meint in der Doppelbedeutung Vergänglichkeit und Eitelkeit. Also auch Bella Figura-Machen. Das ist nicht nur ein individuelles Eitelkeits-Phänomen, sondern auch ein gesellschaftliches; durchaus mit positiven Aspekten: eine Rolle zu spielen, und mit einer gewissen Leichtigkeit durchs Leben zu kommen. Ich sehe bei Reza eine romanische Variante des Umgangs mit diesen Themen, nicht so verkrampft preußisch und protestantisch.
K.WEST: Weshalb erst jetzt ein Stück von Yasmina Reza? Der geeiste Realismus und die »mikrosoziologische Aufklärung«, wie Sie es nennen und etwa bei den Damen Nora, Hedda Gabler, Maria Braun, bei Noréns »Dämonen«-Personal oder der Regina in »Die kleinen Füchse« zeigen, ist geradezu ideal für das Reza-Milieu?
OSTERMEIER: Als ich Rezas »Ein Spanisches Stück« ausschlug, das dann an Jürgen Gosch ging, habe ich einen Fehler gemacht. Diese Form der Literatur scheint mir zu entsprechen. Reza war das viel mehr bewusst, als mir. Als sie »Die kleinen Füchse« sah, bat ich sie, etwas für die Schauspieler dieser Aufführung zu schreiben.
K.WEST: »Eine schlechte Zeit für Gefühle« attestiert Fassbinders Maria Braun der Nachkriegszeit und Adenauer-Republik. Gilt das wiederum oder sogar verstärkt für unsere Gegenwart? Ist Reza mit diesem Befund für Sie eine exakte Diagnostikerin?
OSTERMEIER: Reza sagt selbst: »Ich habe in meinen Stücken nie Geschichten erzählt, es sei denn, man betrachtet den stockenden, wogenden Stoff des Lebens als Geschichte«. Sie beschreibt, sie interpretiert nicht. Einem Insektenforscher gleich. Sie stellt keine Diagnose, wenn sie die Geschichte einer Frau erzählt, die vom Mann Jahre lang als Geliebte gehalten wird. Das wäre eine zu starke Reduzierung.
K.WEST: Und zu eindeutig – wie die einfache Zuschreibung von tragisch, schrecklich oder komisch.
OSTERMEIER: Auf der anderen Seite zeigt diese Außenbetrachtung auch: es ist eben wahnsinnig komisch, wie sich die Leute anstellen und worüber sie außer sich geraten. Alle sind fähig zu schwachsinnigen Aktionen. Lesen Sie zum Beispiel Rezas Roman »Glücklich die Glücklichen«. Insofern bleibt offen, ob wir es mit spezifischen Verhaltensweisen unserer Multioptions- und Optimierungs-Gesellschaft zu tun haben. Oder mit einem Verhalten, das auch Shakespeare im Sommernachtstraum« beschreibt, ohne dass es schon mit dem Kapitalismus zu tun hätte. Reza ist geschlagen und geküsst von ihrem genauen Blick. Aber es ist eben auch ein schmunzelnder Blick auf die Menschen.
K.WEST: Wenn man Reza inszeniert, muss man vielleicht weg vom Gefühl hin zum »Urgefühl«, wie es im »Spanischen Stück« über die Qualität und Deutbarkeit von Musik heißt? Liegt eine Gefahr darin, Rezas Stücken zu lustbetont und wirkungsbewusst zu begegnen?
OSTERMEIER: Nicht, wenn mit Lust Lebenslust, Begierde, Wollust, Sinnlichkeit gemeint ist. Natürlich nicht boulevardeske Lustbarkeit.
K.WEST: Was macht es schwierig, Reza zu inszenieren? Liegt es an der Musikalität der Dialoge, den Pausenzeichen, Tempi, Rhythmuswechseln?
OSTERMEIER: Absolut. Sie schreibt in den Regieanweisungen von »Bella Figura«, dass im Text »die nötigen Pausen und Momente des Schweigens oder der Verlegenheit nicht immer angegeben seien«. Eine gute Pause kann nur wahrgenommen werden, wenn zuvor der Rhythmus stimmt. Ein Dialog muss leicht, scharf und verletzend sein. Man darf den Schmerz nicht noch mitspielen. Nur so kann es eine Schmerzpartitur sein – das hat dann vielleicht mit dem genannten »Urgefühl« zu tun. Jeder Satz ist nur die Spitze eines Eisbergs – und die Situation der Figuren wird nicht im direkten Dialog verhandelt. Bei den Proben muss man in die Tiefe der Beziehungen und Situationen gehen, um dann wieder eine beschleunigte Oberfläche zu inszenieren – bei der dann hoffentlich die Untertexte auch vorhanden sind.
K.WEST: Im Interview mit einer polnischen Theaterzeitschrift haben Sie die Verbindung von »konservativ und radikal« sich selbst und Ihrem Haus, der Schaubühne, zugeschrieben. Könnte man das auch auf Reza anwenden?
OSTERMEIER: Ich hantiere ungern mit Labels. Das war in einem speziellen Kontext für eine bestimmte Öffentlichkeit gesagt. »Präzise und radikal« – würde mir besser gefallen. Oder noch anders, so wie es Antonin Artaud gesagt hat: »Man muss das Chaos in eine tosende Ordnung bringen«. Es gibt das postmoderne, dekonstruktivistische Theater etc. und das literaturorientierte Theater. In jedem der Genres gibt es furchtbare Sachen und gelungene Sachen. An der Schaubühne kommen diese verschiedenen Richtungen zur Geltung: Katie Mitchell, Romeo Castellucci, Michael Thalheimer, Constanza Macras, Falk Richter inszenieren bei uns.
K.WEST: Peymann hat Sie in der Zeit soeben als Berliner Theater-Intendant belobigt.
OSTERMEIER: Meine Leidenschaft ist, Schauspieler-Theater zu machen. Ich mag es, wenn das Ereignis des Theaters im Schauspieler liegt. Aber das ist kein ästhetisches Programm. Erst recht keine Mode. Ich kann nicht anders. Das Schönste ist, wenn auf der Bühne zwischen zwei Menschen etwas passiert, das sich anfühlt wie echtes Leben.
K.WEST: Wenn das Stück endet, wie kann’s dann weitergehen – wie bei Martha und Georg in Albees »Virginia Woolf« mit reinigender Wirkung? Oder folgt die unendliche Fortsetzung?
OSTERMEIER: In »Bella Figura« könnte schon nach dem dritten Bild Schluss sein. Aber dann bekommt Rezas Text eine andere Qualität. In die Eskalations-Dramaturgie des bürgerlichen Salons dringt etwas wie eine Buñuel-Situation, wie im »Würgeengel«: Die Figuren können den Ort nicht mehr verlassen. Sie kommen nicht weg. Das ist eine neue Dimension bei Reza. Es scheint ein Bann um den Ort gelegt. Die Figuren begeben sich am Schluss nach draußen, unters Sternenzelt, und sehen nach oben. Ich denke an eine Zeile von Heiner Müller, aus »Germania 3«: »Dunkel, Genossen, ist der Weltraum. Sehr dunkel.«