TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Der Mann ist ein Wahnsinniger, dem seine Bluttat die Psyche auffrisst. Wie betäubt wankt er durch die Party-Gesellschaft, mit der er eigentlich feierlich sein neues Restaurant »La Fidélité« einweihen wollte. Doch schnell kippt die Szene ins Irreale. Der Mann leidet unter Halluzinationen, wissend, dass im Kühlkeller des Etablissements Leichen liegen, die auf sein Konto gehen. Wie beim Bankett in Shakespeares »Macbeth« erscheinen dem Täter die Opfer als drückender Alb. Nur heißt der Mörder hier nicht Macbeth, sondern Kaspar Brand, lebt nicht im mythischen Schottland, sondern in einer mitteleuropäischen Großstadt, irgendwo zwischen Paris und Düsseldorf.
Nehmen wir also ein Restaurant in Düsseldorf an wie jenes, das sich schräg gegenüber der Oper unter die Kunstsammlung duckt. Anno Schreier – Anfang 30, mit randloser Brille und blass wie von langen Konzentrationsübungen – dreht sich Spaghetti aglio e olio auf die Ga-bel. Er ist der Komponist der Kammeroper »Mörder Kaspar Brand«, die an der Rheinoper uraufgeführt wird. Kaspar Brand hat nichts mit der Legende vom Brandner Kaspar zu tun, der den Teufel überlistet – eher schon mit dem schottischen Königsmörder (ohne dämonische Lady), mit englischen Schauermärchen oder den Psychotrips des Amerikaners Edgar Allan Poe. Poes Erzählung »Das Fass Amontillado« entlieh Librettist und Regisseur Philipp J. Neumann die Ausgangssituation. »Es geht auch bei uns«, sagt Schreier zwischen zwei Gabeldrehungen, »um die Rivalität zwischen zwei Männern, von denen der eine Kaspar Brand ist und der andere Moritz Sandelmann, ein Großkotz und reicher Restaurantbesitzer. Aber bei uns spielt das nicht mehr im alten Italien, sondern im Deutschland von 1975 – einem Jahr, in dem statistisch die meisten Morde passierten.«
Die äußere Handlung ist durchaus schlicht: Als Brand sein erstes Lokal eröffnet, erscheint Sandelmann mit der attraktiven Künstlerin Nadja, die Kaspar für sich gewinnt und heiratet. Dennoch wird er den Verdacht nicht los, dass der arrogante Rivale ein Verhältnis mit Nadja unterhält und das gemeinsame Kind in Wahrheit von Sandelmann stammt. So wird Kaspar, blind vor Neid, zum Mörder – eine krude, aber doch leicht banale Geschichte, wenn sie denn so linear erzählt würde.
Schreier und sein Librettist aber haben sich mehr vorgenommen. Sie setzen den Mord an den Anfang und rollen den Eifersuchtskomplex in Rückblenden auf. Dabei passiert Merkwürdiges: Selbst über die chro-nologisch früheren Szenen legt sich wie Mehltau Kaspars Schuldkom-plex, er hat Wahnvorstellungen, die Realität taumelt immer wieder aus dem Rahmen – selbst das Mordopfer ist am Ende nicht mehr sicher. Das Geschehen findet zunehmend im Kopf des Protagonisten statt. »Das erinnert an die Filmdramaturgie bei David Lynch, in denen die Psyche einer Person zur dramaturgischen Struktur wird: Es gibt Zeitsprünge, die Personen ändern sich. Das hat uns angespornt, so etwas mit musikdramaturgischen Mitteln zu versuchen. Bei uns konstruiert sich Brand die Realität so, wie er sie gerne hätte. Er ist eigentlich der Regisseur dieses Stücks, das ihm aus dem Ruder läuft.«
Auch die österreichische Komponistin Olga Neuwirth hat sich für Lynch interessiert und dessen »Lost Highway« in ein Musiktheater verwandelt, das Lynchs »radikale Abrechnung mit der Erzählung als einer fortschreitenden Handlung« (Neuwirth) fortsetzt. Dieses »Nicht-Entkommen-Können aus einer Situation, diese unbarmherzigen (Zeit-)Schleifen, die einen verrückt machen können, wenn man einmal auf ihnen drauf ist«, gilt auch für die Dramaturgie von »Mörder Kaspar Brand«.
Wobei zwischen Neuwirth und Schreier dann doch musikalische Wel-ten liegen. Zwar bildet auch Schreier Zeitschleifen und wiederkehren-de Psychosen durch obsessive Motive und Loops ab, die sich in den Kopf des Titelhelden (und Zuschauers) einhämmern. Aber Schreiers Musik knüpft viel entschiedener an die Tradition eines Strawinsky, Britten oder Henze an; und es lugen die Romantiker durch seine Kammermusik oder Klavierlieder. Das habe, sagt er, mit seinem heutigen Lebensgefühl zu tun: »Die Romantik war eine Epoche des Pluralismus, eine Art Postmoderne nach der Klassik. Da fing man an, sich auf Kunst und Literatur aus früheren Zeiten zu beziehen, so wie wir es heute generell tun. Wir Kulturschaffende, ob Komponist, Autor oder Maler, gehen mit dem Material vergangener Zeiten so um, als wäre es von heute. Die romantische Weltsicht ist für mich ein Weg, die Überfülle an Material zu beherrschen.«
Diese Haltung erinnert an den Dialog mit der Tradition in der Musik von Manfred Trojahn, bei dem Schreier sechs Jahre an der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule studierte. »Von ihm habe ich gelernt, dass man als Künstler eine klare Haltung entwickeln muss. Er hat mich ermutigt, meinen Weg zu gehen.« Man kann davon ausgehen, dass der passionierte Opernkomponist Trojahn seinen Schüler schließlich auch zum Musiktheater bekehrte. »Der Gevatter« nach einem Märchen der Gebrüder Grimm entstand 2004 noch als Gemeinschaftsoper von Studenten. Zwei Jahre später warf sich der 27-Jährige dann alleinverantwortlich auf Christa Wolfs Erzählung »Kein Ort. Nirgends«, in der Karoline von Günderode und Heinrich von Kleist, zwei Todgeweihte der Romantik, fiktiv aufeinander treffen. 2011 folgte im Auftrag der Oper Zürich eine Oper nach dem Roman »Die Stadt der Blinden« von José Saramago, in deren Vertonung der Autor noch kurz vor seinem Tod einwilligte.
Auch wenn hier die Gruselhandlung chronologisch und psychologisch durcheinander gewirbelt wird: Ausgangspunkt ist das narrative Musiktheater, wie es auch Trojahn favorisiert. Anno Schreier gibt offen zu, dass für ihn im Erzählen von Geschichten die wichtigste musikalische Inspiration liege, sonst würde er den Stoff gar nicht komponieren. »Ich benutze das Geschichtenerzählen als Anlass für Musik. Das ist für mich auch eine kreative Strategie, damit bekommt Musik für die Bühne eine sinnvolle Struktur.« Warum aber überhaupt Musik und nicht gleich Sprechtheater? »Weil die Oper die einzige Kunstform ist, die wirklich die Zeit anhalten kann. Man kann die Handlung an einer bestimmten Stelle stoppen und ins Innere der Personen vordringen. Das wussten schon Händel und Mozart, als sie zwischen Rezitativ und Arie unterschieden: Das Rezitativ treibt die Handlung voran, in der Arie wird sie arretiert und in die Figur geleuchtet.«
Das Innenleben öffnet sich vor allem für die Titelfigur. Schreier ver-langt für »Mörder Kaspar Brand« ein Kammerorchester mit einfach besetzten Bläsern und tiefen Streichern ohne Violinen (»es geht ja um sehr dunkle Bereiche der menschlichen Psyche«). Im reichen Schlag-werk finden sich Weinflaschen, Kochtöpfe und eine Karnevalströte, neben der E-Gitarre sorgen Synthesizer und Drumset für Klänge aus der Popularmusik. Es ist die akustische Sphäre der vergnügungssüchtigen 1970er Jahre, die Schreier heraufbeschwört und gleichzeitig unterhöhlt mit abgründigen Klängen. Auch in seiner Partitur liegen einige Leichen im Keller.
»Mörder Kaspar Brand«, Oper in 5 Bildern, Musik: Anno Schreier, Libretto: Philipp J. Neumann nach Edgar Allan Poe; Uraufführung am 14. Juni 2012 durch die Deutsche Oper am Rhein im Central, alte Paketpost am Hbf. Düsseldorf; Wen-Pin Chien (musikal. Leitung), Philipp J. Neumann (Regie & Bühne); www.deutsche-oper-am-rhein.de