Der Sohn aus bürgerlichen Verhältnissen ging mit 17 Jahren auf die Schule des Lebens. Diese Erfahrung, sagt Alain Platel, habe ihn geprägt und den Grund für seine Arbeit am Theater gelegt. Der 1956 Geborene – der Vater ist Architekt, die Mutter Lehrerin – kam als Austauschschüler in die USA und absolvierte ein Praktikum an einer Schule für behinderte, missbrauchte und sozial benachteiligte Kinder. Die Zeit dort motivierte den Flamen, in Gent Heilpädagogik zu studieren und im Anschluss daran therapeutisch tätig zu sein. Als das erste künstlerische Projekt gewissermaßen aus der Lamäng entstand, war der Schritt zur Gründung von »Les Ballets C. de la B.« getan. Das ebenfalls in Gent beheimatete Kollektiv existiert seit 1984 und zählt, seit es vier Jahre später mit »Lets op Bach« großen internationalen Erfolg hatte, zur europäischen Spitze.
Der wohl wichtigste Impuls von Platels Arbeit liegt in der Begegnung und Konfrontation des scheinbar Nicht-Vereinbaren. Der gesellschaftlich geschärfte Blick richtet sich auf das soziale Ich, seine konkreten Lebensbezüge oder auch Krisen und riskiert dabei politisch unkorrekte Positionierungen. Ein prägnantes Beispiel ist das nicht ohne Proteste gebliebene Verbrennen der Flaggen der Nationen durch das multikulturelle Ensemble von »Wolf«, dem Mozart-Projekt, das 2003 bei der RuhrTriennale in Duisburg uraufgeführt wurde und seither die Welt bereist. In einem Filmporträt über Platel vergleicht diesen szenischen Vorgang staatsautoritärer Demontage der Vater eines Tänzers aus Burkina Faso damit, »als ob man dem Löwen einfach auf den Rücken haut«.
Platel ist ein gläubiger Mensch: Sein Glaube richtet sich auf und an den Menschen. Wie er in seinen Choreografien Musik von Bach, Purcell, Händel, Mozart oder – jetzt eben – Monteverdi einsetzt und sich eine der Realität geschuldete Aura sakralen Empfindens herstellt, gerade weil profane Bindungen und Zuschreibungen nicht gescheut, vielmehr gesucht werden, ist so faszinierend wie irritierend. Schäbige Artisten, Obdachlose, Flüchtlinge, Breakdancer, Krakeeler, ein Rudel Hunde, Taubstumme, Polizei-Chöre, Schwule und Transen, die gesamte in United Colours gefärbte family of man findet Platz in Platels utopisch konkreten Arbeiten mit ihrem Pathos von compassion und Solidarität. Das dramaturgische Crossover bringt dabei gleichermaßen Schmerz und Traurigkeit zum Ausdruck wie die Gegenreaktion von Witz und spendet Hoffnung. »In meinen Stücken geht es um Trost. Ich mache Theater, um nicht an all dem Entsetzlichen, das auf der Welt passiert, zu verzweifeln«, sagt Platel. Arien, Kantaten, Choräle, Motetten sind nicht l’art pour dieu, sondern Energieträger und Transformator für Spiritualität. Die Verwahrlosung unserer Zivilisation und unsere zivilisierte Verkommenheit, bloß materielle Glückserwartung und emotionale Ausbeutung, Verzweiflung, Sehnsüchte, Alltagsnöte und Trivialitäten und deren kaum fassbare Transzendenz stehen in den getanzten Geschichten und ihrer musikalischen Überwölbung in einem komplizierten Verhältnis und schaffen eine rätselhafte Harmonie des Disharmonischen in einem nie hermetisch verriegelten Kunstraum. Es gibt keine Lösungen, aber es gibt vielleicht Erlösung. Wie bei »Wolf« unternimmt Platel nun in »VSPRS« eine Recherche, die mehrere Ausgangspunkte hat: Mozarts Musik und ihre demokratische Bürgerreligion war situiert in den modernen Suburbs und mischte sich als Happening und Herz-Muskel-Training mit den Biografien der Tanzenden. In »VSPRS« trifft die von Monteverdi vor 400 Jahren komponierte Marien-Vesper auf Musik der Sinti und Roma; zudem wurden die Tanzenden konfrontiert mit dem Anschauungsmaterial der Lehrfilme des Dr. Arthur Van Gehuchten, die der Arzt zu Anfang des 20. Jahrhunderts über seine Psychiatriepatienten drehte. Zu Anfang tritt ein Tänzer mit einem Brot in der Hand vorn an die Rampe, wo eine Flasche Wasser steht. Er versucht den Laib anzuknabbern, will ihn aufpulen, ihn brechen, nimmt ihn sich zur Brust wie ein Instrument oder ein Baby. Es gelingt nicht. Das Brot bleibt unversehrt. Die christliche Symbolik, Brot und Wasser, die mehr meint als irdische Speise, verdeutlicht sich noch durch ein drittes Element: den Berg, ein Patchwork aus Stofffetzen oder vielleicht Engels-Flaum, eine Flokati-Felsformation, stabil und nachgiebig zugleich, zu deren Kamm und Klippe die Tänzer – wie die Götter im »Rheingold« nach Walhall – hinaufziehen werden und Botschaft ins Tal senden. Bühne frei also für eine Bergpredigt. Eine ekstatische Lektion in Bestimmung und Befreiung, Lösen und Fesseln, Spaltung und Integration.
Galt das Stottern früheren Kulturen als Sprache derer, die Gott näher sind, könnte dies auch für das Zittern als dem Stottern der Körper gelten. Die Zuckung ist das große Zeichen des aufrührerischen, strapaziösen, im Finale wahrlich ausrastenden hundertminütigen »Vespero«-Hochamts. Die elf grandiosen Tänzer-Solisten veranstalten ein Ballett der Behinderungen, ein Gebet der Gliedmaßen, eine neo-franziskanische Messe. Die kecke Erregungsmasse gleicht Illuminaten, die in heiligen Wahn, Verzückung, Besessenheit, Beglückung fallen – im Grenzbezirk zwischen Lourdes und Club-Lounge, Hildegard von Bingen und Lars von Trier.
Während eine neunköpfige Combo unter Fabrizio Cassols Leitung plus der Sopranistin Maribeth Diggle in einer Höhlung des Berges spielt und Monteverdi mit unerhörtem (für manche ungehörigen) Zungenschlag ins folkloristisch Orientalische, Jazzige, Zigeunermusikalische zieht und vom geistlichbarocken Tonfall in andere kulturelle Codes und riskante Kombinationen von Geige und Saxophon, Blech, Schlagwerk und Percussion, groovender Soli und sirrender Stimme transponiert. Intakt bleibt dieser Monteverdi also nicht, so wenig wie die Seelen und Leiber im halsbrecherischen Gipfelsturm der Aufführung. Ein Tänzer spuckt wie im Schnelldurchlauf die Worte und hackt sie roboterhaft heraus; eine Tänzerin ruft die heroischen oder tragischen Superstars aus Comic, Kino, Literatur, Mythologie und Geschichte auf als klischiertes Antiprogramm zu eigenen Beschränkungen und Defiziten – von Spiderman, King Kong und James Bond über Maria Magdalena, Madame Bovary, Penthesilea und Dalida bis Gandhi und Freud. Wie kann mit diesen »Vorbildern« eigene Selbstbestimmung gelingen? Eine Tänzerin verschraubt sich wie der Vogelmensch Birdy oder ein Einfüßler auf einem Gemälde des Hieronymus Bosch in sich selbst, kraxelt die Steilwände hoch und liefert mit Partner einen zirzensischen Pas de Deux, bei hoch gezogenem Steiß, abgeknicktem Becken und verdrehter Hüfte, als wären sie Tochter und Sohn der Lüfte, die versehentlich irgendwie am Boden aufgeknallt sind.
Alle einfachen Versuche der Annäherung, Erklärung, Deutung prallen ab vom unwegsamen »Monte« Platel. Was erzählt »Vespero «? Auch von einem anderen Lessing-»Nathan « – wilder, heilloser, pessimistischer. Im Körper-Clash werden auch Krieg und Frieden der drei großen monotheistischen Religionen mit der sängerischen Anrufung der Heiligen Stadt Jerusalem verhandelt.
Was mag es bedeuten? Dass es größter Anstrengung und Anspannung bedarf, um den Menschen aus den ihn umgebenden Konstrukten, aus Ideologie, Machtstrukturen oder religiösem Extremismus zu befreien und ihn Schönheit und Heil spüren zu lassen. Die Zentrifugalkräfte sind massiv, die die Tänzer hineinschleudern in Improvisationsschübe und motorische Aktionen des unbegreiflichen Fleisches. Austreibung der Dämonen oder, im Gegenteil, Aufnahmebereitschaft für die Vermählung mit ihnen? Die Frage stellt sich in dem hechelnden und stampfenden, (auto-) aggressiven wie von elektrischen Schlägen und epileptischen Anfällen geschüttelten Finale, einer sexuell und mystisch geladenen Zitterpartie, bis das Ensemble danieder liegt, kaputt, verbogen, verausgabt, hinweg geschleppt von der Walstatt, und sich in einer großen Pietà-Ikone ein Paar zusammenfindet und sagt: »We are want you to love us«. Höhere Gewalt der Liebe. Pfingstfest der Bewegung. Droge Tanz. //
Jahrhunderthalle Bochum, Premiere: 15. Sept.2006, Auff.:16., 17., 19. und 20. Sept.; www.ruhrtriennale.de