// 36 Sekunden. Länger braucht es nicht, um diesen Küchentisch aufzubauen. Jeder, der mal versucht hat, ein vermeintlich einfaches Billy-Regal zügig zusammenzuschrauben, wird neidisch auf dieses Möbelstück schauen und das zweifach gebogene Stück Metall, das sich Inbusschlüssel nennt und tatsächlich als Werkzeug versteht, verfluchen. Mit ein wenig Übung geht es noch schneller, denn der »carrothead kitchen« ist schon vom Ansatz her ganz anders gedacht. Er besteht nur aus vier Teilen und verzichtet bei seiner Konstruktion gänzlich auf Schrauben oder andere Verbindungsmittel – er wird zusammengesteckt. Für sich allein sieht die Tischplatte zerstört aus, vier gefräste Schlitze durchziehen die Oberfläche. Sobald man aber die drei Tischbeinelemente in die Schlitze gesteckt hat, werden diese wieder geschlossen, und das Möbel ist fertig.
Optisch zeigt sich der Tisch zurückhaltend, seine leicht nach außen gestellten und sich nach unten verjüngenden Beine zitieren die Möbeltrends der 50er und 60er Jahre, ohne in eine Nierentischmuffigkeit abzugleiten. Zudem gibt es den Tisch auch aus dem Werkstoff »Parapan«, einem durchgefärbten, acrylartigen Kunststoff, der, als rotes Tischbein gefräst, optische Akzente setzt. Wolfgang Riegger, der Mann hinter »carrothead«, unterstellt seinem Entwurf selbst »eine gewisse Bäuerlichkeit im positiven Sinne. Von der Form her kommt er einem Melkschemel nahe.« Das passt, stammt Riegger doch aus Heiligenberg, einem 35-Seelen-Flecken im Badischen nahe des Bodensees. 1978 geboren, studierte Riegger nach einer Schreinerlehre Innenarchitektur in Trier, wo er sich 2007 mit seinen Möbelentwürfen diplomierte; seit letztem Jahr lebt Riegger in Dortmund und arbeitet in einem großen Architektenbüro. Die Liebe zu Möbeln zieht sich durch seine Biografie, seine Schreinerlehre absolvierte er in einer Restaurationswerkstatt, was sich im Nachhinein als Glücksgriff herausstellen sollte. Hier lernte er die Bauweisen antiker Biedermeierschränke kennen, die ohne Schrauben und andere künstliche Verbindungen auskamen, sondern mit Steckverbindungen und kleinen Holzkeilen zusammengehalten wurden. Dieses Prinzip übernahm er konsequent für seine eigenen Entwürfe. Man braucht zu deren Aufbau keine Werkzeuge außer den eigenen Händen, die Möbel sind schnell auf- und abgeschlagen und lassen sich platzsparend transportieren. Eigenschaften, die Riegger auch für sich selbst schätzt, wenn er seine Möbel zu Designmessen wie die »DMY Berlin« transportiert oder mal wieder selbst umzieht. Wer mal versucht hat, besagtes Billig-Regal aus Schweden wieder in seine Einzelteile zu zerlegen, lernt solche durchdachten Einrichtungsgegenstände zu schätzen.
Wie auch das steckbare Regalsystem »around the corner«, das aus weiß lackierten MDF-Platten besteht, deren Kanten geschwärzt sind, und das auch als Raumteiler oder Tresen Verwendung finden kann. Außerdem schmiegt sich die verwinkelte Konstruktion um jede Raumecke, falls man eine hat. Riegger hat seine Wohnung mit seinen eigenen Entwürfen eingerichtet, und mangels Ecke fungiert das Regal bei ihm als Sichtschutz für die Sitzecke und beherbergt einige Bücher und Zeitschriften. Das schwarze Ledersofa ist zwar nicht seinem Kopf entsprungen, der Couchtisch »hpl« davor schon. Apropos Kopf: Wer Riegger gegenübertritt, kapiert dann auch den etwas kryptischen Namen »carrothead«. Eine anatolische Freundin hat Riegger mal gefragt, ob er denn wisse, wie man rothaarige Menschen in der Türkei nenne. Genau: Möhrenkopf. Als er dann durch eine portugiesische Freundin herauskriegte, dass auch in ihrem Land dieser Begriff existiere, machte er den internationalen Spottnamen zur Firmenbezeichnung.
Boden-Sitzgruppe »freemond series«
Aber zurück zum Couchtisch, der so gar nichts gemein hat mit den braungekachelten Klischeetrumms der deutschen Wohnlandschaften. Ein extravagant verwinkeltes Stück in strahlendem Weiß, das fast an eine Skulptur erinnert und optisch zu »around the corner« passt. »hpl« steht übrigens für »high pressure laminat«, einem Werkstoff aus harzgetränkten Papieren, die mit einem Druck von 100 bar zu Platten zusammengepresst werden.
Im Gegensatz zum »hpl« wirkt Rieggers Arbeitstisch »puzzle« auf den ersten Blick eher unspektakulär. Ein robuster Tisch, dessen raffinierte Details man erst bei genauer Betrachtung entdeckt. Da wären die abgewinkelten Ecken der Tischplatte; die mit einem Pixelmuster bedruckte Oberfläche, und die namengebende Unterkonstruktion. Diese wird in der Mitte mit einer hölzernen Verbindung, die an ein überdimensioniertes Puzzlestück erinnert, zusammengesteckt. Außerdem bietet sich dadurch die Möglichkeit, mittels der Erweiterung »puzzle scale« die Arbeitsplatte des Tisches zu vergrößern. Man kennt solche komplexen Steckverbindungen aus Japan, wo mit dieser Technik ganze Häuser errichtet werden – eine fernöstliche Bau-Philosophie, die auch Wolfgang Rieggers Arbeit beeinflusst hat. Für seinen Stuhl »yeso«, der während eines Auslandssemesters in Oslo entstand, ließ er sich von den natürlichen Eigenschaften des Materials leiten. Die Idee basiert auf einem einfachen Papierstreifen. Wenn man beide Enden übereinander legt, bildet sich wie von selbst jene gebogene Tropfenform, die den »yeso« auszeichnet; man kennt diesen Effekt auch von den Aids-Solidaritätsschleifen. Der fertige Stuhl besteht aus vielen aneinander geleimten Holzschichten, da das Prinzip des natürlichen Verbiegens auch mit sehr dünnen Holzplatten funktioniert.
Bei den meisten von Rieggers Möbeln hat man den Eindruck, dass seine Entwürfe oft die Lösungen eigener Probleme darstellen. »Könnte hinkommen«, sagt er lächelnd, »oder die meiner Freunde«. Während des Studiums fiel ihm auf, das viele seiner Kollegen auf dem Boden auf Matratzen schliefen, die wiederum mit Ziegelsteinen oder alten Europapaletten unterbaut waren. Riegger ersann eine Alternative zu dieser gepflegt angeranzten Sperrmüllästhetik – »wave«, eine Konstruktion aus Holz und geknoteten Seilen, die Lattenrost und Paletten ersetzt, schnell montiert ist, das Auge nicht beleidigt und durch seine Wellenform die Schlafstatt vor Schimmel bewahrt. Riegger schätzt diese Bodennähe nicht nur zum Schlafen, sondern auch beim Sitzen. Momentan arbeitet er an »freemood series« – einer Boden-Sitzgruppe ohne Beine. Grundlage ist ein Brett, das mit einem extrem hochflorigen Teppich umspannt ist und so zu einer Art Sitzkissen wird. Um die Bequemlichkeit zu steigern, sind auch zusätzliche Rückenlehnen angedacht. Nur der »Tisch«, ein im Rieggerschen Winkeldesign gesägtes, beinloses Brett, verweigert sich dem konsequent. Und spätestens beim Kaffeetrinken in Bodennähe wird auch dem Letzten klar, was der Möbeldesigner mit seinem Slogan »the world in another perspective« meint.
Produziert werden seine Entwürfe übrigens auf Anfrage in einer Schreinerei in Trier, mittlerweile gibt es auch einen kleinen Internet-Shop. Die Schraubenindustrie hat sich bisher aber noch nicht gemeldet. //