TEXT: ANDREAS WILINK
Kuriose Idee, sein Ensemble im Rohzustand unter Naturkost-Requisiten anzurichten. Einem wächst eine Möhre aus der Nase, ein anderer hat Tomaten auf den Ohren, jemand ist mit Puddingcreme übergossen, ein nächster mit Fleisch behangen oder mit Spaghetti dekoriert. Was sagt uns dieser Werbe- und Image-Auftritt des Schauspiels Essen unter Christian Tombeil? Wird hier gegessen, was auf die Bühne kommt? Sind es Appetitanreger oder Appetitzügler? Wird das Fleisch zu Markte getragen? Der Schauspieler als Lebens- oder Futtermittel – soll er zur Warnung dienen, dass man mit ihm und dem Theater nicht Schindluder treibt. »Mit Essen spielt man nicht« lautet der Slogan dazu.
Aber wie spielt man in Essen? Wo es in Bochum kaum unter drei Stunden geht, packt man es am Grillo bei den ersten drei Premieren – Klassiker (einziger der Spielzeit), Gegenwartsstück, Revier-Knaller – gebrauchsfertig im 90-Minuten-Takt. Der wunderliche Jubel nach dem Eröffnungs-Abend mit Kleist lässt befürchten, dass die Ära Anselm Weber mit ihrem Konzept eines progressiv forcierten Engagements ohne Konsequenz blieb, was ästhetisches Gespür, das Entwickeln künstlerischer Maßstäbe, die Schulung des Auges und soziale Wahrnehmungsschärfung betrifft. Wie soll man sich sonst erklären, dass ein komplett undefinierbarer »Prinz Friedrich von Homburg« von einer Kulturhauptstadt-Öffentlichkeit so enthusiastisch aufgenommen wurde. Müssen wir uns darauf einstellen, dass es auch beim Theater und seinen Zuschauern zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft kommt: einerseits ausdifferenzierte Angebote für ein großstädtisch gewandtes Publikum, zum anderen die Befriedigung nach dem Regelsatz mit Kunst auf Existenzminimum-Basis? Und wird das billigend von der Kommunalpolitik in Kauf genommen, die mit ihrer Mittelvergabe einer solchen Tendenz Vorschub leistet? Intendant Tombeil muss für sein Haus unterm Dach der TUP (Theater und Philharmonie Essen) mit einer städtischen Zuteilung, die von 3,5 Millionen Euro auf unter drei Millionen sank, wirtschaften.
Der Kleist unter Regie von Christian Hockenbrink beginnt – Aufgemerkt! – als ranschmeißerische Einführung auf Klippschulniveau: Was war 1810? Chiles Unabhängigkeit, Eröffnung einer Krupp-Werkstatt, erstes Oktoberfest, Gründung der Humboldt-Universität in Berlin, Verfassen des Schauspiels »Prinz von Homburg« … So baut man Brücken, die ins Nichts führen. Auf der Bühne herrscht stil-, kopf- und sinnlose Konfusion aus hohem Ton, neckischer Verharmlosung und plumper Parodie, aus Tölpelei und plattester Kritik an Preußentum und paragraphenblöder Pedanterie. Nichts vom grenzgängerischen Wesen zwischen Traum und Tod, Glück und Verderben, Staats-Verherrlichung und Ich-Versehrtheit – es geht rein in die Rabatten, raus aus den Rabatten, die an der Rampe aufgeschüttet wurden und darin sich ein greinender bis grienender Gimpel in Unterwäsche wälzt: die Titelfigur. Ein Heldenwitz.
Tags darauf entsteht im Studio Casa zwischen Stäben eine Welt – und was für eine. Eine bis ins Innerste brutalisierte. Die deutschsprachige Erstaufführung von »Osama der Held« des preisgekrönten Briten Dennis Kelly predigt einen defätistischem Realismus. Weniger ein Drama, mehr Zustandsbeschreibung, gebaut aus Ausrufezeichen, Schlazgzeilen und appellativen Merksätzen (»Wir sind alle tot!«), das dennoch wie mit scharfer Klinge in Hirn und Herz dringt. Das Team um Alexander May (Regie) geht auf engem Raum – hangelnd und hängend in einem weißen Gestänge und vor einer Projektionswand mit Strichmännchen – die Sache direkt, hart, physisch unumwunden an, so dass man etwaige Schwächen entschuldigt. Das Problem ist das Stück, nicht die anti-naturalistisch gehaltene Aufführung.
Der Außenseiter und Fremdkörper Gary, ein dunkler Prophet jenseits von Gut und Böse, hat seinen eigenen Kopf. Für die Schule schreibt er einen Aufsatz, in dem er Osama bin Laden für seine Konsequenz und Radikalität, mit der sich der al Qaida-Chef selbst aufs Spiel setzt, zum Vorbild erklärt. Da liegt der Verdacht nahe, dass Gary auch die Garagen im Wohnblock abgefackelt hat, der dem Geschwisterpaar Francis und Louise gehört und in dem auch Mark wohnt, der eine Affäre mit der Schülerin Mandy hat. Gary, gestaut in seiner Energie und überanstrengt von der Komplexität der Welt (Sebastian Tessenow), wird für das Gerücht gehalten, das über ihn kursiert. Die anderen schnappen ihn sich, foltern und erschlagen ihn. Der Andere, das Andere muss ausgemerzt werden – zum Heil der Gesellschaft. »Der Zweck heiligt die Mittel.« Die Macht hat, wer über den Ausnahmezustand verfügt.
Kollektive Paranoia und die Neurose als System: Diese Diagnose verteilt Dennis Kelly auf die vier Täterfiguren, die er mit dem Psychomüll der Zivilisation und den Folgen des 11. September zuschüttet: gestörte Familienbindung, verlorene Jugend, Blockaden, Verkümmerung, Verdrängung, moralische Verwahrlosung. Ein Helden-Aberwitz.
Dann kommt der Abend, da will die Säge sägen. Jeder von uns kriegt ein Grubenlämpchen, um es sich an die Stirn zu klemmen. Lass leuchten, Kumpel! Adolf Winkelmanns »Jede Menge Kohle«, das Stück zum Film von 1981, verspricht jede Menge Applaus, weil garantiert authentisch zwischen Recklinghausen, Dortmund, Duisburg, Bochum und Essen: örtlich, sprachlich, akustisch, optisch. Ein Mentalitäts-Wärmer, andererseits gar nicht so fern von Fassbinders frühen Kleinbürger-Melodramen.
Auch die Geschichte des Asphaltcowboys Katlewski (Jörg Malchow), der nach zweiwöchiger Wanderung Unter Tage aus der Tiefe des Raums aufsteigt und bei Grütens Wohn-, Küchen- und Schlafzeile klingelt, ist ebenfalls mehr Zustandsbeschreibung, als dass sie groß Handlungsbedarf demonstrierte. Das Zubehör ist wichtig und schon die halbe Miete: Lockenwickler, Plüschpantinen, Eierlikör und Nudelsalat, Taubendreck und Unterhemdkultur – das volle Programm. Weil der Inszenierung von Caroline Stolz das nicht reicht und weil die Revier-Revue sonst auch nur eine Stunde dauern würde, da ihr Winkelmanns ruhige Bildsprache fehlt, singt das Darsteller-Oktett noch Pott-Pop von Udo Lindenberg, Didi Hallervorden und Tana Schanzara (die Original-Ilse Grüten und bessere Hälfte von Hermann Lause). Es gehen ein paar Finessen verloren (etwa der Western-Saloon-Auftritt von Katlewski in der Kneipe und überhaupt die herunter gekühlte Temperatur des Films), wenige neue kommen dazu (wie hübsche lautmalerische Ersatzhandlungen). Aber die guten Sprüche bleiben: »Watte fahren kanns, dat brauchse nich tragen«. Die sind nicht staub-, sondern knochentrocken. Eine Antihelden-Gaudi, inszeniert etwas zu angestrengt kraftmeiernd, viel zu gefühlig und demonstrativ verbrüdernd. Eigentlich reagiert man hier empfindlich auf falsche Töne.