Musikalisch ist Verdis »La forza del destino« vielleicht seine beste Oper. So vielgestaltig in Formen und Ausdruck, näher kam der Italiener einem echten Musikdrama kaum. Dass »Die Macht des Schicksals« dennoch eher selten auf Spielplänen auftaucht, hat andere Gründe: Dramaturgisch ist sie schwierig: Die drei Lebensgeschichten der Leonora, ihres Liebhabers Alvaro und ihres Bruders Carlos werden parallel erzählt, verknüpft durch die Idee des Schicksals. Wirkliche Begegnungen der drei Protagonisten sind rar, so dass sie ihre Konflikte mehr mit sich selbst austragen als untereinander. Zudem ist das titelgebende Schicksal gleich in verschiedenen Ausprägungen anwesend: Als Zufall mit dem Schuss der sich aus der weggeworfenen Pistole löst und Leonoras Vater zu Beginn tötet, mit Verfluchungen, deren Auswirkungen sich erst gegen Ende zeigen und personifiziert in der Zigeunerin Preziosilla. Verdis zentrale Frage, in wie weit Schicksal oder persönliche Entscheidung das Leben bestimmen, gewinnt so, wie auch der Rest der Handlung, nie den zwingenden Sog der Tragödie, sondern droht unterzugehen im Episodischen der vielen Orte, großen Zeitsprünge und Nebenthemen wie religiöser Erweckung, italienischem Nationalismus und Kriegseuphorie.
Beherzte Streichungen
Verdi selbst war sich dieser dramaturgischen Probleme wohl bewusst und arbeitete immer wieder an »La forza del destino« weiter. Direkt nach der Petersburger Uraufführung änderte er den Schluss, doch auch nach der Mailander Fassung, die heute meist und jetzt auch in Gelsenkirchen verwendet wird, war die Arbeit für den Komponisten nie abgeschlossen. So ist es legitim, dass das Team um Michael Schulz, seinen Dramaturgen Stephan Steinmetz und den ersten Kapellmeister Giuliano Betta nun noch einmal Hand anlegt. Nicht nur mit beherzten Streichungen, sondern auch Verschiebungen und der Hinzufügung von Musiknummern aus Verdis Requiem und Claudio Monteverdis Marienvesper. Deutlich wird das gleich zu Beginn: Eine Prozession mit Leonora als Maria zum Introitus Monteverdis, die schon durch das Foyer zog, eröffnet den Abend auf der Bühne. Danach folgt der kurze erste Akt und bildet eine Art Prolog, in dem mit der gesellschaftlich nicht akzeptierten, aber ganz unschuldigen Liebe zwischen Leonora und Alvaro und dem Unglücksschuss aus Alvaros Pistole, der Leonoras Vater tötet, die Grundkonflikte etabliert werden.
Als Einsiedlerin im Kloster
Erst danach folgt die »Sinfonia«, die Schulz klug nutzt, um den Bruder Leonoras einzuführen und dessen Fehlinterpretation der vorangegangenen Ereignisse als skrupellosen Mord und Entführung seiner Schwester zu erzählen. Die Waldszene aus dem dritten Akt ist vorgezogen und schließt direkt an die Dorfschenken-Szene des zweiten Aktes an, so dass der Ausbruch des Krieges und die Verwundung Alvaros direkt aufeinanderfolgen. Die Szenen, in denen Leonora im Kloster als Einsiedlerin aufgenommen wird, folgen vor und nach der Pause. Im zweiten Teil setzt das Team nach dem berühmten »Rataplan« der Preziosilla, das bei Verdi den Kriegswahnsinn erzählt, dessen Dies Irae aus dem Requiem, um diesem Aspekt der Handlung den angemessenen Gehalt zu geben.
Übermacht der Männer
Erstaunlich ist, dass es dem Team tatsächlich gelingt, durch die deutlichen Eingriffe die Handlung wesentlich stringenter zu erzählen. Selbst Monteverdis Kompositionen fügen sich fast selbstverständlich in den musikalischen Ablauf ein. Das mächtige Dies Irae nutzt Schulz für einen Aufmarsch allegorischer Figuren, die die Schrecken des Krieges erzählen. Das Hauptaugenmerk der Regie gilt aber der Geschichte der Leonora. Unter der Übermacht der unflexiblen Männer ist sie diejenige, die sich entwickelt. Zu Beginn als Heilige überhöht und von ihrer männlichen Verwandschaft in ein unerreichbares Bild der Reinheit gezwängt, befreit sie sich, über ihre eigenen durch Konventionen geprägten Zweifel hinweg, um dann selbstbestimmt den Weg ins Kloster und den Glauben zu wählen. Mit Petra Schmidt hat Schulz dafür eine Sänger-Darstellerin zur Verfügung, die gerade noch als Janáčeks Elina Makropulos beeindruckte und nun im gänzlich anderen italienischen Fach auftrumpft.
Glänzende Durchsetzungskraft
Ungemein zwingend ist auch die Besetzung des Marchese di Calatrava und des Padre Guardiano im Kloster mit dem gleichen Sänger. Beide sind Vaterfiguren für Leonora. Luciano Batinić nimmt die Doppelbelastung mit kraftvollem und warmem Bass. Bastiaan Everink singt einen strammen Don Carlo. Timothy Richards befriedigt mit seinem Alvaro die Fans der italienischen Tenortradition voll und ganz, wirkt aber in dem ansonsten eher klar und schnörkellos singenden Ensemble manchmal prätenziös. Für die erkrankte Almuth Herbst war bei der Premiere Khatuna Mikaberizde als Preziosilla eingesprungen. Sie verleiht der anspruchsvollen Partie eine gefährliche Klarheit und glänzende Durchsetzungskraft. Michael Schulz deutet sie nicht als pittoreske Zigeunerin, sondern als diabolische Entsprechung zu Leonora. Gleich zu Beginn ist sie es, die Alvaro die unheilbringende Pistole reicht, später wird sie als schwarze Todesmadonna mit Strahlenkrone den Krieg heraufbeschwören.
Dirk Becker hat für die Inzenierung einen schlichten wie wandlungsfähigen Raum erfunden. Im Bühnenhintergrund verfolgt der Chor über weite Strecken des Abends von einer Zuschauertribühne aus das Geschehen. Die mit beigem Kunstleder bezogenen Sitze erinnern eher an ein Kino oder Provinztheater als an ein Opernhaus. Davor teilt ein Fadenvorhang die Bühne in zwei Hälften, das wesentliche Element für die Darstellung der verschiedenen Orte sind diverse schlichte, quadratische Tische. Die atmosphärische Aufladung dieser Ausstattung übernehmen das Licht von Patrick Fuchs, sowie die Kostüme von Renée Listerdal. Sie setzt beim Volk zunächst auf Alltagskleidung, die leicht in die 1950er Jahre verweist, sich im Gesamtbild, wenn der Chor auf der Tribühne sitzt, fast zu einem malerischen Tableau zusammenfügt, als wären die Farben jeden Pullunders, jeder Caprihose, jeder ärmellosen Schluppenbluse mit Patina überzogene Pinselstriche.
Kunstfertiger Geschichtenerzähler
Giuliano Betta dirigiert einen dramatischen und detailklaren Verdi mit teilweise zugespitzten Tempi, denen die Neue Philharmonie Westfalen und das Ensemble sicher folgt. Michael Schulz beweist sich in »La forza del destino« erneut als kunstfertiger Geschichtenerzähler, der mit genauer Personenführung psychologische Plastizität schafft und dann auch immer wieder gut dosiert mit großen Bildern Schauwerte bietet. Die herausragende Leistung ist aber die mutige und schlüssige Fassung, die nur im Team mit Dramaturgie und musikalischer Leitung entstehen konnte und letztlich Verdis Oper endlich zu der klaren Form verhilft, die dem Komponisten selbst nie gelingen wollte.
27. Februar, 1., 6., 14., 21. und 29. März, 5., 18. und 25. April, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen, www.musiktheater-im-revier.de