Die Welt, wie sie sich darstellt, ist kein Ort zum Wohlfühlen. Der mythische Ursprung wollte es einmal anders. »Und alles war gut.« So Gottes eigene Einsicht in das von ihm in einer Arbeitswoche Geschaffene, wie es die biblische Überlieferung erzählt. Die Welt erfüllte sich im Garten Eden – einst Ideal einer blühenden Oase, wie Nomaden, also auch das alte Volk Israel, sie sich wünschen. »Paradies« – die Umzäunung. Folglich muss es ein Innen und ein Außen geben. Und die Gefahr, egal welcher Art, infiltriert das geschützte Innere: die bürgerliche Schutzzone, die doch immer auch Sehnsuchtsort und Utopie bleibt. Für seinen Filmessay »Paradies« findet Max Philipp Schmid (Schweiz) kluge Anmerkungen und theatrale Bilder: nicht nur umfriedete, von grünen Hecken und Gärten abgeschirmte Häuser, sondern eine abstrakte Kulissen-Natur, in der der Erzähler sich – ironisch – als Forschungsreisender präsentiert.
Die Erfahrung der Verstoßung aus dem Paradies, die vielen der 60 Filme des Internationalen Wettbewerbs der Kurzfilmtage eingeschrieben scheint, wird nur gelegentlich aufgehellt, gegengeführt oder eben auch nur ironisiert von beglückenden Momenten (»Raymond«, Nina Yuen, USA), die das Einvernehmen mit dem Kosmos, den Zyklen der Schöpfung, dem Wunder des Einzel-Ichs, einem spirituellen Sein und Vergehen oder nur dem Großen Nichts naturwissenschaftlich oder wehmütig feiern, spiegeln, reflektieren.
So viele Rückwärtsbewegungen, Familien-Betrachtungen, Spurensuchen, Gedächtnisarbeit, Traumreisen, Erinnerungsreste: von den Niederlanden (Eliane Bots, »Conversations«) und Schweden (Monika Andreae, »Karin«) bis Vietnam, wo Phuong Anh Nguyen den Tod der Großmutter mit den unerhörten Signal-Frequenzen des einsamsten aller Wale in Beziehung setzt und in eine philosophische Bild- und Gedanken-Kette einbindet, endend mit Bachs Cello-Suite Nummer 1 und der Silhouette eines mittelalterlichen Totentanzes. Und weiter von China und Japan nach der Fukushima-Katastrophe (»Kioku«) – etwa in verblassendem, dunstigem Schwarzweiß, das »Einstweh« (Botho Strauß) aufruft, wenn der Schemen einer menschlichen Gestalt in einem Haus und Garten den abgelegten Dingen nachspürt, Lichtbrechungen und der Wind in den Blättern des Waldes eingefangen und die Vorstellung eines gewesenen Glücks beschworen werden, bis Wellen und Wasser, Horizont und Himmel alles absorbieren.
Eine weitere Auffälligkeit im Oberhausener Programm ist die häufige indirekte Kommunikation zwischen Figuren, nicht zwischen Ich und Du, sondern zwischen Ich und Maschine: mit Richtmikrofon und Videokamera, am PC, am Laptop, im Internet. Es geht um Nachstellung, Manipulation, Simulation. Irritationen. Geht um die Reflexion von Perspektiven und Sichtweisen, wie in dem US-amerikanischen »Panchrome I, II, III«, wenn sich die farbig impressionistische Bildoberfläche stetig experimentell wandelt wie auf einem Gemälde von Claude Monet. »We make movies« steht auf einem provisorischen Schild, gehängt in einen Baum, in dem brasilianischen Beitrag »Vistas e Visoes«, und der Wagen mit Kameramann und der Ton-Ausrüstung des Teams fährt durchs Bild. Die Ansage geht an uns und dient doch auch der Selbstbespiegelung der formal augenscheinlich etwas wirren Filmemacher. Das Medium ist die Botschaft. Unverdrossen. Immer noch.
»32 + 4« (Hau Chun Chan / VR China) öffnet das elektronische Tagebuch einer Studentin, die vom Elternhaus getrennt aufwuchs und die Zerrüttung, Zerstörung und Separierung ihrer Familie (re-)konstruiert, wobei das Selbstgespräch der Tochter zur Selbstfindung beitragen soll. Ein Heilungs- und Klärungsversuch mit der Kamera: Sie befragt Vater und Mutter, betrachtet Fotografien, kehrt an Orte zurück. Es ist die Recherche einer schlimmen Vergangenheit, begangener Fehler, Schuld und Ausweglosigkeit und zeigt – tief deprimierend – psychische Wracks, von schwerer Arbeit zermürbt, in der Fremde entwurzelt, im Leben selbst obdachlos geworden.
In radikaler Subjektivität und Ästhetik schier zerbersten will »Missing« (Ntare Guma Mbaho Mwine, USA), die Auseinandersetzung der Regisseurin mit einem frühen Todes-Verlust, die das Magische nicht scharf abgrenzt vom Realistischen, sondern Durchlässigkeit schafft und für das grenzenlos Assoziative des Bewusstseins eine vollendet visuelle Übersetzung.
Was geht vor in »Blue and Red« (Zhou Tao / VR China)? Verstörendes. Wir beobachten vielleicht ein Naturwunder in künstlich kolorierten Farben, als hätten sich Filter vor die Sonne geschoben, und die Menschen – Evakuierte oder Event-Besucher eines Spektakels, Demonstranten oder Asylanten, wer weiß? – liegen, schauen und bestaunen ein ominöses Ereignis. Befremdlich ahnungsvoll und bedrohlich wirkt es, wie die bunte Invasion von Aliens. Plötzlich sieht man eine Phalanx von bewaffnetem Militär patrouillieren, Gasmasken sind im Einsatz, Schüsse fallen. Womöglich die Montage des Zusammenhanglosen und Unvereinbaren. Die Welt ist eine »Lebensverunsicherungsanstalt«, wie der Schriftsteller Hermann Burger es genannt hat.
Im einzigen deutschen Beitrag des Internationalen Wettbewerbs wird zunächst nicht und später nur einmal ganz kurz Deutsch gesprochen. Ansonsten Arabisch. Eine dreiköpfige Familie sitzt am Küchentisch, isst und trinkt Kaffee. Man weiß nicht, wo die Geschichte »Wada« (Khaled Jamal Mzher) spielt, kann den Ort, kann Straßen, ein Café nicht lokalisieren. Häuserfronten mit Graffitis und die Amtssprache einer Behörde oder offiziellen Stelle lassen an Berlin denken. Etwas ist geschehen – ein Familiendrama. Vater, Mutter und der erwachsene Sohn schauen ernst und besorgt, verschlossen in ihrem Kummer, stumm vor Leid. Jemand ist verschollen – unterwegs, um Familienangehörige zu holen und in Sicherheit zu bringen. Niemand weiß Genaues. Wer steht auf welcher Frontseite? Der ältere Mann, Ibrahim, sucht nach Informationen, hofft auf Nachricht. Unveröffentlichte Videos zeigen Kriegsgeschehen. Ein Krisengebiet im Nahen Osten? Dann fällt der Name Syrien. Die Geschichte wird konkret und ist doch Metapher für das Schicksal von Millionen Flüchtlingen. Schließlich wird eine männliche Leiche, offenbar überführt aus Syrien, für die Bestattung zeremoniell vorbereitet. Inschallah. Nur Gott kann helfen, wo der Mensch scheitert.
Während ein Elternpaar im Zimmer eines in einem verlassenen Park gelegenen Hotels (in Bratislava) mit seinen Laptops beschäftigt ist, während slawischer HipHop auf der Tonspur liegt, spielen ihre zwei kleinen Jungen im Astro-nauten-Look draußen mit Spielzeug-Raketen und bauen eine Abschussrampe: »Zlaté Piesky Rocket Launch« (Josef Dabernig, Österreich). Die Kamera schaut ziellos und ratlos in den Himmel. Dann zünden auch auf den PC-Bildschirmen Raketen im Feuersturm. Der große Knall. Eine Allegorie, von finsterer Komik, über Groß und Klein und das Erlernen von (science-fiktionaler oder realpolitischer) Gewalt. Ein System-Vergleich in Parallelmontage: das analoge Kinderspiel und die digitale Playstation der Erwachsenen. Auch so geht Vererbungslehre.
Und dann tanzt da noch ein Skelett, wie von Ray Harryhausen als special effect für Hollywood kreiert und in die Filmbilder hineinmontiert (»Death among us«, Oleg Elagin, Russland), tanzt durch eine Galerie und über winterliche Straßen. Das Wort Ukraine fällt in dieser Groteske. Noch ein Memento Mori. Nein, die Welt ist kein Ort zum Wohlfühlen.
INFO
Neben dem Internationalen Wettbewerb wird der deutsche und der NRW-, der Kinder-/Jugendfilmwettbewerb sowie der um den MuVi-Preis ausgerichtet. Das Thema »Das Dritte Bild« beschäftigt sich mit dem 3D-Kino als Experiment. Profile widmen sich dem Werk von Ito Takashi, Erkka Nissinen William Raban, Jennifer Reeder und Vipin Vijay.
30. April bis 5. Mai 2015; www.kurzfilmtage.de