Nun ist es gewiss. Wochenlang war der ukrainische Fotograf und Dokumentarfilmer Maks Levin vermisst worden. Bis man ihn Anfang April schließlich fand – tot. Nahe dem Dorf Guta Mezhyhirska nördlich von Kiew, wo er die Folgen des Angriffskrieges dokumentieren wollte.
Russische Soldaten sollen den unbewaffneten Journalisten erschossen haben, wie es heißt. Es ist das Erste, worüber Museumsdirektor Jürgen Kaumkötter an diesem Vormittag spricht. Denn ganz frisch ist der Plan, die letzten Bilder von Maks Lewin hier in Solingen im »Zentrum für verfolgte Künste« zu zeigen.
Da sieht man etwa einen ukrainischen Kämpfer, der, in einen schmalen Graben gezwängt, Schutz sucht vor dem gegnerischen Luftangriff. Oder Soldaten, die von einer Frau mit einem Tablett voller bunter Süßigkeiten bewirtet werden. Berührende Bilder des Krieges. Eines davon – es zeigt einen total zerbombten Wohnblock in Kiew – hatte »Der Spiegel« noch am 5. März auf sein Titelblatt gedruckt. Der Auftritt des getöteten ukrainischen Fotografen jetzt in Solingen macht deutlich, wie weit das Haus seinen Auftrag fasst. Die eigenen Sammlungen setzen die Schwerpunkte zwar im vergangenen Jahrhundert: Vor allem auf unter den Nationalsozialisten verfemte Maler*innen oder Bildhauer*innen und auf Schriftsteller*innen, die Widerstand geleistet haben gegen Nationalsozialismus und Kommunismus.
Doch von hier aus spannt das Zentrum seine Aktivitäten immer wieder bis in die Gegenwart. Bezieht etwa Stellung zur Black Lives Matter-Bewegung. Bietet ein Forum für Künstler*innen im Exil, lässt Literat*innen zu Wort kommen, die Flucht und Emigration erfahren haben. Holt einen Fotografen ins Haus, der uns unter Einsatz des eigenen Lebens, Krieg, Flucht und Verwüstung vor Augen führt. Direktor Kaumkötter: »Wir sind natürlich zuerst unserer Sammlung verpflichtet, dann aber auch der Gegenwart.« Das Haus in Solingen sei für all jene da, die unter den Diktaturen gelitten haben, für Menschen, die ihre Zukunft oder ihr Leben verloren haben.
Den Anstoß für die Gründung eines solchen Zentrums hatte bereits in den 1990er Jahren die Wuppertaler Else Lasker-Schüler-Gesellschaft gegeben. In Solingen traf die Idee auf die Kunstsammlung von Gerhard Schneider, die 2004 mit Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen einst verfemter und dann oft vergessener Künstler*innen als Stiftung in das dortige Kunstmuseum einzog. Vier Jahre später kam die Literatur-Sammlung des Journalisten Jürgen Serke hinzu: Dokumente, Briefe, Fotos, Bücher, Werke ehemals verbotener, verbrannter und im Exil entstandener Literatur.
Diese beiden Sammlungen bilden die Säulen des erst 2015 offiziell gegründeten »Zentrums für verfolgte Künste«, das seither eigenständig ist und auch dank der Unterstützung durch den Landschaftsverband Rheinland auf einem sicheren finanziellen Fundament fußt. Mittlerweile teilt man sich die Leitung nicht mehr mit dem Kunstmuseum, sondern hat einen eigenen Direktor und konnte auch sonst personell etwas zulegen. Neben Jürgen Kaumkötter haben immerhin drei junge Mitarbeiterinnen Platz genommen am großen Konferenztisch in der ersten Etage des hübschen Gründerzeitbaus, 1908 errichtet als Gräfrather Rathaus.
Aktuell ist man hier vor allem mit Forschungen und Vorbereitungen einer großen Ausstellung beschäftigt: Gemeinsam mit dem documenta archiv und parallel zur documenta 15 will sie zurückschauen auf die Anfänge der Kasseler Großveranstaltung und dabei vor allem die Rolle der documenta bei der Etablierung des noch immer maßgeblichen Kanons der Bildenden Kunst unter die Lupe nehmen. Warum gerieten so viele der in den 1920er Jahren noch sehr präsenten Künstler*innen nach dem Krieg völlig in Vergessenheit? Dies ist eine zentrale Frage der Kurator*innen.
Antworten suchen sie beim Blick auf zwei repräsentative Großausstellungen, die sich als recht aufschlussreich erweisen: Zum einen die »Vierte Große Kunstausstellung Kassel«, eine Art Vorläufer der documenta. Und zum anderen die erste Ausgabe der documenta, die 1955 antrat, eine Brücke zu schlagen. Sie sollte an die Avantgarde vor 1933 anzuknüpfen. Dieses erklärte Ziel muss man im Kopf behalten, bei der Sichtung der Künstlerlisten beider Ausstellungen.
Da zeigt sich: Die nun in Solingen beheimateten »Vergessenen« aus Gerhard Schneiders Sammlung hatten 1929 noch einen guten Stand in Kassel. Immerhin 30 dieser Künstler*innen fanden sich unter den insgesamt 173 Eingeladenen bei der »Vierten Großen Kunstausstellung«. 26 Jahre später bei der ersten documenta wurden nur noch drei davon vorgelassen. Was umso erstaunlicher scheint, als für beide Veranstaltungen Arnold Bode als Kurator verantwortlich zeichnete. Um den Mechanismen des Vergessens auf die Spur zu kommen, ziehen die Kurator*innen in Solingen allerlei Zahlen, Kurven, Statistiken heran. Und vertiefen sich auch in die Biografien der »Vergessenen«.
Darunter etwa Gert Wollheim, der im Ersten Weltkrieg als Soldat an der Front gekämpft und einen Bauchschuss überlebt hatte. Mit aller Wucht bringt er das Erlebte nach dem Krieg auf die Leinwand: Fast nackt, mit schmerzverzerrten Zügen, hochgerissenen Armen und aufgerissenem Bauch zeigt der Maler den »Verwundeten«, sein wohl bekanntestes Werk. Malend und zeichnend verarbeitete der junge Künstler in den 1920er Jahren die Gräuel. Und fühlte sich als Denker und Propagandist revolutionären, eher proletarischen Ideen verbunden.
Ein weiteres Beispiel bietet Jankel Adler, der zurzeit auch in einer Ausstellung im Wuppertaler von der Heydt-Museum wiederzuentdecken ist. Pole war er und bekennender Jude. Ab 1916 hatte Adler an der Wupper studiert und dann in der jungen rheinischen Kunstszene der frühen 20er Jahre sein Eldorado gefunden. Offensichtlich inspirierend wirkten auf ihn beispielsweise die Kölner Progressiven und ihre Vision einer neuen proletarischen Kunst. Mit Kollegen wie Franz Wilhelm Seiwert und Heinrich Hoerle träumte Adler von einer klassenlosen Gesellschaft. Seine Bilder der Zeit sprechen eine klare Sprache und sind nicht selten politisch motiviert. Immer wieder greift der Künstler aber auch jüdische Themen und Motive auf. 1933 musste er fliehen aus Deutschland. Sein Weg führte zuerst nach Paris, später nach London, wo er seiner Kunst noch einmal eine neue Richtung geben konnte, bevor er 1949 einer Herzattacke erlag.
Bei den Solinger Untersuchungen zeichnet sich ab, dass die documenta 1955 offenbar auf Nummer sicher gehen und der Welt vor allem ältere, vor 1933 bereits ganz und gar etablierte Größen präsentieren wollte. Bloß keine Experimente. Und noch etwas scheint Kaumkötter offensichtlich: All jene, die unmittelbar Erinnerungen an die dunkle Vergangenheit weckten, wurden möglichst ausgeschlossen. Künstler*innen etwa, die sich stark politisch eingesetzt hatten, die wegen dieses Engagements oder wegen ihrer Religion verfolgt oder getötet worden waren. Man wollte mit Macht die Geschichte abschütteln, den Neuanfang um jeden Preis.
Solche vergangenen Vorgänge stehen nicht für sich in Solingen. Die historischen Positionen seien oft wie eine Blaupause der Gegenwart, bemerkt der Direktor. Sie versinnbildlichten, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich seien, und beide einander brauchten. Auch Maks Lewin reihe sich hier ein. »Er hat nicht einfach die Schrecken des Krieges festgehalten, sondern eine Sprache gefunden, die wir, die nicht den Krieg erleben müssen, verstehen.«
»Deadlines« Kriegsbilder des ukrainischen Fotojournalisten Maks Levin
bis 26. Juni
1929/1955. Die erste documenta und das Vergessen einer Künstler:innengeneration
6. Mai bis 11. September
Zentrum für verfolgte Künste, Solingen