TEXT: MARTIN KUHNA
Erinnerungen, Aufzeichnungen, Dokumente, Kunstwerke, Briefe, Filme, Tonbänder, Dateien, CDs, DVDs, Festplatten und Akten, Akten, Akten: Die Frage, was außer Vermögen oder Schulden von uns bleibt, was es zu bewahren gilt und was nicht, beschäftigt nicht nur den einzelnen Menschen gegen Ende seines Lebens. Sie ist auch eine gesellschaftliche Frage, und sie wird angesichts der rasend wachsenden Zahl verschiedenster Artefakte immer schwieriger zu beantworten. Natürlich ist Vieles einfach Müll, aber das muss erst mal einer unterscheiden von jenen Hinterlassenschaften, die als Teil des kollektiven Gedächtnisses und kulturellen Erbes Gewicht haben können. Deshalb gibt es neuerdings Sammel-Initiativen aller Art und allerorten. Das 2010 eröffnete Archiv für Künstlernachlässe in Brauweiler ist eine dieser Bewahranstalten.
Die Initiative kam von der Stiftung Kunstfonds. Ausgangslage war eine schlichte Folge der gesellschaftlichen Entwicklung nach dem Krieg, sagt Geschäftsführerin Karin Lingl: »Es gibt immer mehr Künstler, immer mehr Kunst – und immer weniger Erben, die damit umgehen können.« Dass gute Kunst sich durchsetze und damit gewissermaßen für sich selbst sorge, sei allenfalls eine halbe Wahrheit, sagt Lingl. Diskussionen um Verkäufe aus Kunstmuseen hätten vor einigen Jahren gezeigt, dass der »klassische Weg« – »Atelier, Galerie, Museum« – selbst erfolgreiche Kunstwerke nicht unbedingt in einen sicheren und öffentlichen Hafen führt. Vor allem aber habe der Kunstfonds nicht Einzelarbeiten im Auge, sondern ganze Werkkomplexe, für die sich auch im Fall renommierter Künstler oft keine Heimat finde.
Zum Beispiel der 2008 bei einem Autounfall gestorbene Ludger Gerdes, bekannt vor allem für seine Skulpturen im öffentlichen Raum, für Land Art, Kunst am Bau. Er hinterließ zahlreiche Entwürfe und Modelle für nicht verwirklichte Projekte, bildhauerische Arbeiten aus seinen frühen Jahren – und aus späterer Zeit neben Skizzen und Collagen »unglaublich viel Malerei«, sagt Karin Lingl. Damit war er am Markt und in der Kunstszene kaum präsent. »Für ihn selbst aber hatte diese Malerei einen großen Stellenwert«, auch wenn einiges davon sichtlich in künstlerische Sackgassen geführt habe. Möglich, dass »der Markt« noch einiges davon für sich entdeckt; vor allem aber sei für Fachleute aus diesem Nachlass viel über Gerdes’ künstlerische Entwicklung abzulesen. Und so findet sich der Nachlass des früheren Kunstfonds-Stipendiaten jetzt in den alten Gutshof-Gebäuden der Abtei Brauweiler.
Mit Mitteln des Landes und des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) wurden Stall und Scheune umgebaut und für die Zwecke des Archivs ertüchtigt. Unmittelbare Nachbarn in der Abtei sind das Amt für Denkmalpflege sowie das Archivberatungs- und Fortbildungszentrum des LVR; der Landschaftsverband als Hausherr erlässt dem Künstlerarchiv die Miete, im übrigen trägt der Kunstfonds den Aufbau des Archivs und laufende Kosten aus eigenen Mitteln. Auf 2000 Quadratmetern Fläche sind die Nachlässe von neun Künstlern bereits komplett gelagert; insgesamt 16 Nachlässe sind mit vertraglichem Siegel erworben.
Die »Dienstleistungen« (Lingl) des Archivs sind Sicherung, Sichtung, Erfassung, Dokumentation, Konservierung und fachgerechte Lagerung des Materials. Dafür sind in erster Linie eine Kunsthistorikerin und ein Restaurator auf Teilzeit-Stellen zuständig; weitere vier Teilzeitkräfte arbeiten ihnen zu. Die nachgelassenen Kunstwerke sollen nicht nur für kunsthistorische Forschung zugänglich sein, sondern auch dem Kunstbetrieb offen stehen. Das heißt in erster Linie: Sie werden an Museen ausgeliehen. Ein geringer Teil der Arbeiten ist auch – in Absprache mit den Künstlern oder ihren Erben – verkäuflich, wobei der Erlös in die Arbeit des Archivs fließt. Forciert wird solcher Verkauf jedoch nicht. »Wir haben bisher über eine Galerie eine einzige Arbeit verkauft«, sagt Karin Lingl.
Nachlässe werden nicht gesucht; statt dessen gibt es zahlreiche Anfragen von Erben oder von Künstlern, die ihr Haus noch bei Lebzeiten bestellen wollen. Ludger Gerdes ist wohl der prominenteste Künstler, dessen Nachlass in Brauweiler liegt. Die anderen – Pidder Auberger, HP Alvermann, Renate Anger, Eduard Franoszek, Godehard Lietzow, Elisabeth Marx, Karl Marx, Gerhard Wind – zählen erwartungsgemäß nicht zur allerersten Garde. Gleichwohl sei Qualität das entscheidende Kriterium für die mit Künstlern, Kuratoren und Galeristen besetzte Jury, sagt Karin Lingl. Die Zahl der Ausstellungen und ähnlich »objektive« Daten spielten keine Rolle, auch gebe es keine Quoten nach Region, Alter oder Geschlecht oder sonst etwas. Hier gilt’s der Kunst.
Einschränkungen sind eher praktischer Art: Der Wunsch einer Künstlerin, auch den umfänglichen Vorrat an gesammelten, aber noch nicht verarbeiteten Materialien aufzunehmen, blieb unerfüllt. Dito kann eine Neigung zu Riesenformaten zur Ablehnung führen. Die großen Bilder des Kölner »Neuen Wilden« Karl Marx, von denen eines gerade im Aufnahmeraum des Archivs fotografisch dokumentiert wird, sind in der Hinsicht schon an der Grenze. Schließlich haben die Experten auch schon bedauernd vor Nachlässen gestanden, die durch falsche Lagerung morsch und schimmlig waren.
Ein Teil der Kunstwerke ist in Schaumagazinen so gelagert, dass sie ohne Aufwand vorgezeigt werden können – etwa in Schieberegalen. Doch richtet sich das Angebot nur an Fachleute; ein öffentliches Museum ist das Archiv nicht. Das könnte sich ändern, wenn es grünes Licht für geplante Erweiterungsbauten gibt. Dann stellt Karin Lingl sich ein großes »Schaulager« nach Basler Vorbild vor, mit Ausstellungen, die Besuchern nicht nur Kunst vorführen, sondern auch die Arbeit der Archivare mit den Nachlässen transparent macht.
Erweiterungsbau oder nicht – ein Gang durch die schon bestehenden Räume macht deutlich, dass die Zahl der anzunehmenden Künstlernachlässe sehr begrenzt ist. Zwar gibt es auch die Möglichkeit, bereits ordentlich gelagerte Konvolute an Ort und Stelle zu belassen und als »Satellitenstiftungen« unter die Obhut des Brauweiler Archivs zu nehmen, wie es schon mit dem Düsseldorfer Horst Egon Kalinowski vereinbart ist. Aber das werden doch eher Ausnahmen sein. Bisher habe das neue Archiv 95 Prozent der Anfragen abgelehnt, sagt Lingl – was keineswegs bedeute, dass das alles minderwertig sei.
So gesehen, ist Brauweiler ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass es weitere, meist regionale Projekte zu Künstlernachlässen gibt in Bonn, Mannheim, Hamburg, Saarbrücken und anderswo, sei nur zu begrüßen, sagt Lingl: »Wir sind ein Modellprojekt und finden hoffentlich Nachahmer.« Gut möglich. Am 15. September gibt es nebenan im LVR-Kulturzentrum der Abtei eine Tagung »Vom Umgang mit Künstlernachlässen«; zwei Wochen später ein Treffen in Stuttgart unter der gleichen Überschrift, mit dem sanft ironischen Zusatz »Kunst lass nach«. Karl Valentin hat recht: Kunst macht viel Arbeit – nicht nur den fleißigen Künstlern.
http://www.kunstfonds.de/kuenstlernachlaesse.html