Solche Konzerte bleiben lange in Erinnerung. Egal, wie teuer man sie bezahlt hat und wie weit man fahren musste. Sollte man sich das entgehen lassen? Dieses bipolare Dreamteam, das Anfang der 1980er Jahre an zwei Abenden im Amsterdamer Concertgebouw an zwei Flügeln Platz nahm, um miteinander Ping-Pong zu spielen? Auf der einen Seite: der Amerikaner Chick Corea im wallenden Batik- Leibchen. Ihm gegenüber: der Österreicher Friedrich Gulda mit seinem obligatorischen Strickkäppchen auf dem halbkahlen Schädel. Wie die beiden Rechts- und Linkshänder sich dann die Blue Notes mit scheinbar unberechenbarem Spin zuspielten und immer wieder im Modern Jazz-Gefüge überraschende Stopps einstreuten, war allein schon eine Improvisationsshow erster Güte.
Doch eigentlich war das nur die Aufwärmphase für den nächsten Abend, für den man sich als Schiedsrichter Nikolaus Harnoncourt geholt hatte. Gespielt wurde Mozarts Konzert für zwei Klaviere, das dank des strammen Zugriffs, der entwaffnenden Spontaneität, der bewundernswerten Ausdruckstiefe und den fesselnden Presto-Steigerungen zu einer dreißigminütigen Mozart-Glücksstunde ohne Halbwertszeit werden sollte. Dass das alles auf Anhieb funktionierte, verblüfft rückblickend immer noch. Schließlich hatte sich Chick Corea bis 1982 ausschließlich mit der Jazz-Idiomatik beschäftigt und selbst an wichtigen Jazz-Kapiteln mitgeschrieben.
Aber mit Gulda hatte er den modernen Orpheus des Mozart-Spiels als Führer an seiner Seite und wurde auf einen Schlag in die Wun derwelt Mozarts hineingezogen. Wenngleich er sich darin noch etwas verunsichert bewegte, wie Corea sich später erinnern sollte: »Nach einem stürmisch-improvisierten leitete Gulda zu einem wunderschönen melodischen Abschnitt über, bei dem es sich offensichtlich um eine Komposition handelte. Ich war vollkommen überrascht von dieser Musik und vor dem Hintergrund unseres freien Musizierens unfähig zu sagen, wer sie komponiert hatte – ich dachte sogar, es könnte vielleicht ein zeitgenössischer Komponist mit einer überaus melodischen und romantischen Ader gewesen sein. Hinterher fragte ich Gulda dann ganz naiv, wer denn diese herrliche Musik geschrieben habe, und er antwortete völlig trocken: ›Wieso, das ist Mozart!‹« Mozart aus der Perspektive des Jazz-Musikers – damit wurde Corea zum Pionier. Lange bevor Klavierkollege Keith Jarrett sich ebenfalls und wenig behänd an den Klavierkonzerten versuchte. Auch die vokalen Mozart-Exerzitien des Stimmwunders Bobby McFerrin hatten nur Entertainment-Format. Corea hat dagegen nicht nur reproduzierend für neuen Mozart-Elan gesorgt. Selbst als Komponist blieb er ganz nahe bei ihm und seiner Instrumentierung, als er 1985 und nach weiteren Gulda-Dialogen nun ein eigenes Klavierkonzert plante – in Geist und Klang an den Salzburger angelehnt. Gewidmet jedoch ist es dem »Geist der Religionsfreiheit«, diesem »Grundrecht aller Menschen«. Damit wollte Corea nicht etwa den Freimaurer Mozart posthum vor den Angriffen der katholischen Kirche in Schutz nehmen. Als bekennendes Mitglied der Scientology-Sekte blies ihm schon damals in Europa der öffentliche Wind mächtig entgegen. 1993 wurde sein geplanter Auftritt bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Stuttgart gar spektakulär von der baden-württembergischen Landesregierung abgesagt. Corea zog auch da wegen der »Verletzung (seiner) Menschenrechte« vor Gericht. Ohne Erfolg.
Mittlerweile hat Corea nach einer konsequent langjährigen Verbannung aus deutschen Konzertsälen längst wieder Fuß gefasst. Und auch für die Jury des »Klavier-Festival Ruhr«, die Corea den diesjährigen Ehrenpreis bei seinem Konzert »In the Spirit of Mozart« im Dortmunder Konzerthaus verleihen wird, spielte seine seit 40 Jahren bestehende Verehrung von L. Ron Hubbard keine Rolle. Vielmehr wird er als Musiker gewürdigt, der sich als Pianist und Komponist nahezu nichts hat zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil.
Seit der in Chelsea/Massachusetts geborene Armando Anthony Corea 1968 im Alter von 27 Jahren gleich zwei Trumpfkarten auf einmal ausgespielt hat, gehört er zu den wendigsten und spielfreudigsten Vertretern seiner Zunft. Zum einen legte er in jenem Jahr sein erstes eigenes Album »Now He Sings, Now He Sobs« auf dem Renommier- Jazz-Label »Blue Note« vor, auf dem er mit Bassist Miroslav Vitous und Schlagzeuger Roy Haynes sein fulminant heißlaufendes Abstraktionsvermögen unter Beweis stellt. Gleichzeitig heuerte Corea bei Miles Davis an und war bis 1970 unmittelbar an dessen Fusion-Revolutionen »Bitches Brew« und »Live-Evil« beteiligt. Schon da entpuppte sich Corea als musikalisches Chamäleon und legte fortan mit eigenen Bands wie Circle und Return To Forever mehrfach und stets enorm erfolgreich den Schalter zwischen Free- und Rock-Jazz, zwischen Latin und Ellington-Standards um. Zudem entwickelte sich Corea regelrecht zum Marathon-Pianisten, der mit Gleichgesinnten wie John McLaughlin, Herbie Hancock und John Patitucci spielte und spielte und spielte – und sich dabei mehr auf die eigenen Trendsetter- Qualitäten verließ, als irgendwelchen Strömungen hinterher zu rennen.
Dass es dabei schon mal zu Déjà-vu-Erlebnissen kommen kann, nimmt er gerne in Kauf. Auf Coreas aktuellem Album »The Ultimate Adventure« beispielsweise, das auf der Lektüre eines Hubbard- Romans basiert (»Als Musiker bin ich von ihm [Hubbard] als Künstler inspiriert«), befindet man sich unweigerlich in einer Zeitschleife. Als Corea 1972 mit seinem »Return To Forever«-Projekt die Querflöte pastoral lieblich rehabilitierte, aus dem Fender Rhodes-Tastengefährt frischpolierte Klangperlen herauskullern ließ und mit federnden Latino-Rhythmen Hits wie »Spain« und »La Fiesta« markierte. Über dreißig Jahre später ist das ganz schön nostalgisch. Zumal Corea mit dem Bassisten Steve Gadd und Airto Moreiro an den Percussions zwei wichtige Jugendfreunde reaktiviert hat, die dem alten Herrn und Meister nur noch blindlings folgen wollten.
In diesem Jahr ist Corea, der am 12. Juni seinen 65. Geburtstag beging, wieder in der Mozart-Spur. Von der Stadt Wien hat er für das laufende Mozart-Jahr den Auftrag bekommen, sein 2. Klavierkonzert zu komponieren, das er nebst dem großen c-moll-Konzert Mozarts auch in Dortmund mit der von ihm zusammengestellten Bayerischen Kammerphilharmonie spielen wird. Damit stellt sich Corea selbstbewusst erneut in die Tradition der komponierenden Pianisten, sei es nun Bach, Mozart oder Beethoven. Aber besonders »Mozarts Verspieltheit bildet eben eine offensichtliche Verbindung zu meiner Musik. Weshalb ich ihn auch meinen Kumpel Mo nenne«, sagt Corea. Wenn er nun in der Nachfolge von Daniel Barenboim und Pierre Boulez den Preis des »Klavier-Festival Ruhr« verliehen bekommt, dann ist dies auch eine Auszeichnung für den Mann, der Corea einst an Mozart heranführte. Denn laut Intendant Franz Xaver Ohnesorg »ehren wir so mit unserem Preis im Mozartjahr 2006 ein wenig auch den großen Fritz Gulda.« So schließt sich der Kreis. //
Am 10. Juli 2006 im Rahmen des Klavier-Festival Ruhr im Konzerthaus Dortmund; www.klavierfestival.de