TEXT: KATJA BEHRENS
Ein Büschel Frühlingszwiebeln liegt am Ackerrand, ein Schwein am Boden, Fischköpfe auf einem Haufen. Zwei flache Styroporschalen sind schon leer, an einem Rand klebt irgendein Rest, ein einzelner grüner Apfel, eine Papaya in einem schützenden Kunststoffnetz, geriffelte Pommes fallen von ihrem Blech, auf einem Monitorbild treibt ein Fisch durchs trübe Wasser. Vielfach schon fanden Nahrungsmittel ihren Weg in die Kunst, nicht nur als exquisit gemalte Stillleben. Oft sind sie Vanitas-Symbol, Mahnung, manchmal Malmaterial, sind veränderliche Skulpturen oder Performance-Objekte. Das gehört längst zur Kunstgeschichte. Auch der tote Hase, der die Bilder erklärt bekommt.
Fünf Jahre lang ist der 1945 geborene Berliner Fotograf Michael Schmidt kreuz und quer durch Europa gereist, den Lebensmitteln hinterher. Er suchte Supermärkte auf und Betriebe, Felder, Bauernhöfe und Manufakturen, schaute sich an, womit wir es täglich, direkt oder indirekt, auf dem Tisch zu tun haben. Jetzt stellt er sein neues Werk vor. Zum ersten Mal überhaupt wird seine Serie »Lebensmittel« im Museum gezeigt, wobei die 121 von insgesamt 177 Fotografien nicht bloß Bilder fertiger Nahrungsmittel sind. Ebenso wie das verschweißte Hack, die brutzelnden Eier, die grüne Paprika oder die Kinderwurst in Bärchenform werden die Bedingungen der Lebensmittelproduktion, ihre Konfektionierung und ihr Vertrieb abgebildet. Eingang in die Bilder des Fotografen finden auch die von der Lebensmittelindustrie aufs Effektivste organisierte und konzentrierte Landschaft und die zurückgelassene Ödnis, die Techniken der Konservierung und Vermarktung, die Arbeit und ihre Überwachung. Die Orte der Produktion und Weiterverarbeitung allerdings bleiben anonym, das gibt ihnen universelle Gültigkeit.
Trotzdem wächst das Unbehagen: Rücken von Schweinen, deren Schicksal längst besiegelt ist, stacheldrahtumzäunte Fischfarmen, eine Rieselanlage, die den Salat im Gewächshaus gedeihen lässt, eine Apfelwaschanlage, Molkereien, Zuchtbetriebe, pralle Euter, gebeugte Rücken, das Störbild einer Überwachungskamera. Manchmal sieht man ein Auge, einen letzten Blick vielleicht. Diese Lesart jedenfalls legen einzelne Fotos nahe. Ansonsten kommen die Bilder eher neutral daher, ohne viel Emotion. Das aber ist gerade auch Teil ihrer bedrohlichen Wirkung.
Es sind ebenjene Versprechen von Effizienz, Kalkulierbarkeit und Kontrolle, die ja in Wirklichkeit dehumanisierende Konsequenzen haben, individuelle Lebensführung oder kulturelle Diversität verhindern und als allgültiges Konsumkonzept längst unsere Kultur und Gegenwart infiziert haben. Eine standardisierte Konsumkultur, deren Angebote sich zeitgemäß und pragmatisch präsentieren, sich niederschwellig anbieten und auf diese Weise viele Menschen erreichen. So muss es aussehen, wenn wir effektiv arbeiten und konsumieren wollen, scheinen die Bilder uns zuzurufen.
Bekannt ist Michael Schmidt für seine umfangreichen Serien, in denen er immer wieder politische und gesellschaftliche Fragestellungen untersucht. Seit 30 Jahren arbeitet er ausschließlich an diesen Langzeitprojekten, deren Realisierung in der Regel mehrere Jahre dauert. Wiederholt setzt er sich dabei mit (West-)Berlin auseinander, beschreibt die Veränderungen des urbanen Raumes. In den 80er Jahren wurde er mit seinem Künstlerbuch »Waffenruhe« (1985-1987) berühmt, in dem er West-Berlin vor dem Mauerfall porträtiert. Mit dieser Serie und dem Projekt »EIN-HEIT« / »U-NI-TY« (1991-1994) hatte er 1995 als erster deutscher Fotograf eine Einzelausstellung im New Yorker Museum of Modern Art. Auch »Frauen« (1997-1999) oder »Irgendwo« (2001-2004) bedienen sich der sozialdokumentarischen Schwarzweißfotografie, ohne reine Dokumentation sein zu wollen.
Bei seiner Lebensmittelserie nun fotografiert er erstmals, entgegen seiner sonstigen Praxis, vereinzelt in Farbe – und zitiert damit die Bildsprache der Werbung, die ja einen wesentlichen Anteil an der globalen Vermassung unserer (Ess-)Kultur trägt. Aber nur die Frühlingszwiebeln in ihrem Beet und die käuflichen Endprodukte aus dem Supermarkt sind bunt, das macht ihre Künstlichkeit umso sichtbarer. »Manche Bilder brauchten einfach die Farbe«, so der Fotograf. Wohl wahr, den metallisch-bunten Schimmer auf der Oberfläche der Schinkenscheibe hätte man sonst wohl nicht so gut sehen können.
Die Serie »Lebensmittel« (2006-2010) in ihrer vermeintlichen Indifferenz vermeidet es ausdrücklich, die Haltung des Künstlers gleich preiszugeben. Sie zeigt keine Schock-Motive in engerem Sinne, betont lediglich das Objektive des Kamerablicks. In einer Art Mimikry nähern sich die kühl-klaren Fotografien ihrem Gegenstand, einer durchgestylten und organisierten Industrie, in der Leben und Tod ein ähnliches Gesicht haben, eine Industrie, die außerdem kontrolliert, dass alles an seinem Platz bleibt.
Diese Zweckhaftigkeit und Organisiertheit des Arbeitens und Verarbeitens, diese coole Effizienz spiegelt sich in der gesamten Serie, deren Module alle in-, neben- und sich ergänzend zueinander passen.
Der Künstler betont, dass es ihm gerade nicht um das Einzelbild gehe, sondern vielmehr um das Zusammenspiel in der Serie, sowohl inhaltlich als auch formal. Er versuche, »Wirklichkeit bildhaft transparent zu machen.«
Auf einer Aufnahme gleich zu Beginn der Ausstellung sieht man ein schmutzverkrustetes Tierbein neben der zarten Haut eines prallen Euters. Eine der dauerträchtigen Milchkühe hängt an der Melkmaschine. Diese Fotografie besitzt aber das Empathie-Potenzial, das die Bilder Schmidts im Kontext der Serie entfalten. Auf einem anderen, zweiteiligen, Bild nämlich, das ganz woanders hängt, ist ein gerade geborenes Kalb in einem Gebärcontainer zu sehen. Aber, es ist nicht richtig und ganz zu sehen, denn die zweite Hälfte des geteilten Bildes ist umgekehrt abgezogen: Das Kalb ist in ein verkehrtes Verhältnis zu sich selbst gerückt. Wie kann man die grausamen Verhältnisse unserer Nahrungsmittelindustrie, unsere Ess- und Kulturstörungen besser beschreiben?
Ein anderes Bild zeigt mehrere Menschen, die an einer Böschung entlang kraxeln, irgendetwas in einer Hecke pflücken. Irgendwelche Utensilien, ein Kleidungsstück, Arbeitshandschuhe, eine Reisetasche, es gibt auf einzelnen Fotos immer wieder Hinweise auf die Menschen, die hier arbeiten. Vielleicht ist es die Tasche eines Saisonarbeiters, eines Erntehelfers, der hier sein Hab und Gut bewahrt. Welche Assoziationen, welche Narrationen stecken in diesen Bilderfolgen? Und was haben sie mit mir zu tun?
Schmidts Bilder sind nicht nur brillante, präzise Fotografien, sie sind immer auch ein Nachdenken über die politischen, ökonomischen, kulturellen Einschreibungen und Ablagerungen ihrer Motive. Und sie sind ein Nachdenken über die Frage: Wie möchte ich leben?
Es dauert seine Zeit, bis das Entsetzen Gestalt gewinnt. Zu vertraut scheint alles, zu nah. Aber auf einmal finden auch das Auge des grinsenden Wurstbärchens und das Auge der Kuh zusammen. Sie blicken sie uns an.
Leverkusen Museum Morsbroich, bis 13. Mai 2012. Künstlerbuch (ohne Text) 59 Euro. Tel.: 0214/85 55 60. www.museum-morsbroich.de