Bei Tita Giese begann alles mit schmalen Fugen zwischen Pflastersteinen. Ein paar Semester hatte sie bereits an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert, als sie im Hinterhof ihres Wohnhauses zwischen den Spalten des Kopfsteinpflasters verschiedene Gräser, Flechten, Moose und Schachtelhalme entdeckte. Giese experimentierte mit diesen Zufallsfunden, säte neue Samen aus, erprobte weitere Pflanzenarten und Pilze.
Wilde Inseln – in Düsseldorf, Basel oder Berlin
Diese ersten kleinen Pflanzenversuche sollten die Basis für das werden, was Tita Giese seit mehr als 40 Jahren im großen Stil betreibt: städtische Restflächen in wilde Inseln zu verwandeln. In Düsseldorf, Hamburg, München, Berlin und Basel hat sie auffällige Pflanzenkompositionen mitten in ungewöhnliche Stadtlagen implantiert. Ihre Projekte sind überraschend, extravagant und fügen sich doch wie selbstverständlich ins Stadtbild ein. Giese möchte den urbanen Raum mit all seinen Kreuzungen und Kreisverkehren nicht begrünen oder verschönern, sie möchte Natur darstellen. Wie zum Beispiel am Düsseldorfer Wehrhahn. Oberhalb des U-Bahntunnels entdeckte sie vor einigen Monaten zufällig eine große Baustelle. »Einer dieser seelenlosen städtischen Orte, an denen man vorbeifährt und die man sofort wieder vergisst.« Durch die Baumaßnahmen wurden riesige Asphaltblöcke aufgeworfen, in die sie nun 123 Essigbäume mit zarten, fedrigen Blättern pflanzen möchte.
Bevor sie ihre Pflanzenbilder umsetzt, testet sie Tita Giese auf ihren Versuchsflächen in Düsseldorf. Ein unscheinbares Garagentor in Düsseltal trennt die betonierte Stadtwelt von ihren bepflanzten Flächen voller Kontraste: Auf 1600 Quadratmetern wachsen Tomaten zwischen Zwergpalmen, Schlingpflanzen ringeln sich um Magnolienbäume, in der Krone einer großen Palme sitzen Meisen. Hier erprobt Giese zusammen mit Studenten der Kunstakademie Düsseldorf, wie sich unterschiedliche Boden- und Lichtverhältnisse auf ihre Pflanzen auswirken. Sie stellt ihren eigenen Kompost her und wird dabei von der Natur unterstützt. »Nichts geht ohne den Regenwurm«, sagt Giese und deutet auf die Erde. Sie sind essenziell für einen fruchtbaren Boden. Immer wieder erkundet sie neue Pflanzen. »Es ist so aufregend, wie viele es gibt.«
Projekte für Herzog & De Meuron
Sie erzählt. Zum Beispiel von den Hirschzungen, deren langen Blätter im Winter grün bleiben. Vom Elefantenohr, einer Efeu-Art, die mit den Lianen des Urwalds verwandt ist. Oder von Euphorbia, einem Wolfsmilchgewächs, das sie auf der griechischen Halbinsel Pilion entdeckte. Immer wenn sie »ein bisschen Geld« hat, gebe sie es für Pflanzen aus. Allein in diesem Jahr habe sie bereits 12.000 Euro investiert. Tita Giese ist dafür auf der ganzen Welt unterwegs, reist bis nach China, ins Mississippi-Delta oder zu speziellen Gärtnereien nach England. Außerdem arbeitet sie eng mit einem niederländischen Großhändler zusammen. Dieser besorgte ihr etwa besonders seltene Palmen für ihr Pflanzenprojekt im Baseler Actelion Business Center, das sie für die Architekten Herzog & De Meuron entwickelt hat.
»Düsseldorf ist für mich der ideale Ort. All die Gebäude, die in den 50er und 60er Jahren dort hineingepfeffert wurden.«
Tita Giese
Ihre ersten Pflanzenprojekte realisierte Tita Giese in Düsseldorf: »Für mich der ideale Ort«, sagt sie. »All die Gebäude, die in den 50er und 60er Jahren dort hineingepfeffert wurden.« Das erste größere Konzept hatte sie 1980 an der vielbefahrenen Berliner Allee in der Gabelung der markanten Hochstraße des »Tausendfüßlers« in Angriff genommen. Auf Straßeninseln und Seitenstreifen pflanzte sie Bambus, Schilf, Palmen und Farne, säte Kamillensamen und setzte Aronstabgewächse, eine exotische Pflanzenart mit pfeilförmigen Blättern und großen Blütenkelchen – Gieses Lieblingspflanze. »Das Exotische interessiert mich«, sagt sie. »Es soll wild aussehen.«
Auf dem Balkon von Galerist Christian Nagel
Doch die Wildnis, die Tita Giese kreiert, ist künstlich. Denn sie lässt nur das wachsen, was für das jeweilige Konzept vorgesehen ist. Jedes neue Projekt wird akribisch geplant. Ausgehend von einem atmosphärischen Bild, einer Assoziation erstellt sie ihre Pflanzenlandschaften zunächst am Computer. Sie berücksichtigt unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeiten, berechnet Blühphasen, erstellt Jahreszeitenpläne. Tita Gieses Pflanzenprojekte findet man vor allem in Großstädten. Historische Orte oder der ländliche Raum sind für sie »völlig uninteressant«. Stattdessen hat sie mittlerweile auch im Kontext von Häusern und Wohnungen mit ihren Pflanzen gearbeitet, unter anderem den Berliner Balkon von Galerist Christian Nagel erst in einen »Sumpfbalkon« mit Schilf und Pilzen verwandelt und später Essigbäume mit winterharten Kakteen kombiniert.
Auch den Garten des Fotografen Thomas Ruff hat Giese gestaltet. Dort verwendete sie unter anderem »geimpfte« Pappelstämme, die sie auch bei ihren Straßeninseln über dem Hamburger Elbtunnel einsetze und in die Pilzbrut injizierte. Über Jahre hinweg durchwachsen die Pilsporen das Holz und bilden schließlich bunte Fruchtkörbe, die aus den Stämmen herausquellen. Bei all ihren Projekten kommt ein wichtiges Prinzip zum Tragen: jede Pflanze ist gleichwertig. »Jede einzelne soll in ihrer Form erkennbar sein.« Außerdem kombiniert Tita Giese exotische Pflanzen mit weit verbreiteten Arten wie Löwenzahn, Wolfsmilch oder sogar Gemüsesorten wie Rhabarber und Spargel. Solche extremen, irritierenden Brüche ziehen sich wie ein roter Faden durch ihre Konzepte. So pflanzte sie Yuccapalmen und Präriegras für ihr Projekt »Zwölf mittelamerikanische Verkehrsinseln in Düsseldorf-City« am Stresemannplatz, der verkehrsreichsten Kreuzung in Düsseldorf, in ausgediente Autoreifen.
Tita Gieses Pflanzenlandschaften polarisieren. Ihr aktuelles Konzept für den Düsseldorfer Wehrhahn »Essigbäume wie Palmen auf Asphaltfelsen über dem U-Bahn-Tunnel« scheitert bislang am Widerstand der Behörden. »Die Stadt will es nicht genehmigen, weil es angeblich zu teuer ist, dabei ist es günstig«, sagt Giese. »Die Asphaltfelsen entstanden bei dem Abbruch der Straße, die Bäume kosten nicht viel und benötigen keine künstliche Bewässerung.« Kritik musste sie sich im Laufe der Zeit häufiger anhören. Immer wieder wird ihr etwa vorgeworfen, zu selten mit »heimischen« Pflanzen zu arbeiten. »Dabei gibt es heimische Pflanzen gar nicht«, sagt Giese. »Selbst die Kastanie ist asiatischen Ursprungs und kam erst im 16. Jahrhundert nach Europa.« Auch deshalb grenzt sie sich von der Begrünungspraxis der Städte ab: »Da wird monokulturartig nach standarisierten Programmen gearbeitet, die überall gleich sind.«
Gieses Projekte funktionieren nur, wenn sie ihre Vorstellungen bedingungslos umsetzen kann. Das kann dann auch mehr Zeit in Anspruch nehmen – und manchmal auch etwas mehr kosten. Mit ihren Pflanzenprojekten möchte sie bewusst keine Rückzugsorte schaffen. Sie sollen nicht mit Nostalgie und Esoterik, die derzeit viele Menschen in den Städten zum Gärtnern animieren, in Verbindung gebracht werden – auch wenn sie die Motivation dahinter nachvollziehen kann. »Das hat nichts mit mir zu tun. Ich will keine heile Welt schaffen, sondern das Tollste der Welt.«