Ragout fin in Königinpasteten gab es schon und Vanillepudding-Hügel mit Erdbeer-Gipfeln. Zu den Gemälden von Lorenzo Pompa servierte Judith Samen einen Sauerbraten. Zu Claudia van Koolwijks fotografischem Eierschalen-Stillleben an der Wand garten auf ihrem großen Gasherd zwei Hühnereier. Und als Christine Erhard mit ihrer konstruktivistisch anmutenden Komposition in die Wohnküche einzog, stand bei den Samens eine Geometrie mit grünem Spargel auf dem Speiseplan. Demnächst wird die Familie wohl eine Mousse au Chocolat goutieren. Das Rezept dazu liefert Künstlerfreundin Sonja Alhäuser zusammen mit einer Horde putziger Marzipan-Putti, die, im Rahmen zusammengepfercht, soeben per Post in Düsseldorf eingetroffen ist.
Gelebt und gekocht, geredet und gegessen wird ohnehin jeden Tag an diesem zentralen Ort in der Künstlerwohnung in Düsseldorf. Doch seit einigen Monaten bereichern wöchentlich wechselnde Ausstellungen das Geschehen hier ungemein. Der Küchenalltag wird zum Kitchenhappening, das jedermann miterleben kann auf diversen Kanälen. Corona-konform virtuell. So trifft man sich auch an diesem Vormittag mit Judith Samen und ihrem Kollegen Arpad Dobriban, der demnächst in der Küche ausstellen wird. Und den man sich vorab schon einmal als Gesprächspartner herbeigewünscht hat. Gekommen ist der Künstlerkoch mit ein wenig Zitronat aus eigener Herstellung und mit viel Begeisterung für die spontane Ausstellungs-Initiative der Kollegin.
Ein riesengroßes Brot umarmen
»Als im Oktober die Corona-Zahlen wieder in die Höhe gingen, war mir klar, dass der Winter sehr lang wird«, so Samen. »In meinem Umfeld sah ich die Energie schwinden, die Leute wurden mutlos. Da habe ich mir gedacht, ich möchte etwas Schönes machen, wo etwas passiert, wo man sich austauscht – auch wenn es kein realer Austausch ist.« Mit Blick auf Samens bisheriges Werk lag die Küche als Schauplatz nicht fern.
Noch als Studentin bei Fritz Schwegler an der Düsseldorfer Akademie hatte sich die Künstlerin 1993 mit eigenen Arbeiten auf Wanderschaft durch fünf fremde Küchen begeben. Seither war das Thema Kochen eigentlich permanent präsent in ihrem Werk – zumindest mittelbar. Allenthalben tauchen Lebensmittel auf: Milch, Brot, Kohl, Kartoffelpüree… Vor allem in Samens inszenierten Fotografien: Da duckt sich ein nackter kleiner Junge auf einer karierten Wolldecke – vielleicht aus Furcht vor dem gerupften Huhn, das von oben ins Bild baumelt. Die Künstlerin selbst umarmt ein riesengroßes Brot oder besingt voll Pathos ein rohes Herz an der Wand.
Ein andermal lässt sie eine Gruppe von Männern und Frauen in gelben Gewändern mit einer Würstchenkette agieren – als wäre das Grillgut ein Heiligtum. Solche Bilder wirken mitunter komisch, absurd, dabei oft genug ambivalent und auch recht anspielungsreich. Immer wieder drängen sich Vanitas-Gedanken auf und die existenzielle Bedeutung des Nahrungsmittels tritt ins Bewusstsein.
Bei ihren Kitchenhappenings lässt Samen aber nun die eigenen Werke außen vor und übergibt die Bühne den Kollegen, jeweils für eine Woche dürfen sie die Küchenwand bespielen und wählen für den besonderen Auftritt gerne Arbeiten aus, die das Essensthema aufgreifen oder wenigstens streifen. Mit der eigenen Familie kreiert Samen dann ihre kleinen Happenings dazu und zieht mit Instagrams Hilfe alle Welt hinzu.
»Ich finde diese Idee extrem motivierend. Alle sagen ab, und Judith Samen lädt ein.«
Arpad Dobriban
Ein Beispiel, das er den großen Institutionen und Museen anempfiehlt: Neue Formate erfinden, statt einfach zu schließen und die Ausstellungen ins Internet zu stellen. Was er selbst Ende April in Samens Küche zeigen will, weiß der einstige Meisterschüler von Nam June Paik an der Düsseldorfer Kunstakademie schon ganz genau. Rasch holt Dobriban sein Handy heraus, um einen Eindruck zu vermitteln vom Küchenwand füllenden Großformat: Ein Kreis neben dem anderen ist da zu erkennen.
Das hübsche Muster hat einen bedenklichen Hintergrund. Denn was ausschaut wie ein Ornament ist in Wirklichkeit der Blick von oben auf gigantische Kartoffelplantagen im nordamerikanischen Idaho, wo riesige Bewässerungsanlagen rundlaufen. Um Fast-Food-Ketten zu versorgen, schöpften sie das Grundwasser ab, so Dobriban, auf einer Fläche, die halb so groß sei wie Europa. Wenn Judith Samen ihren Speiseplan wahrmacht und passend zum Bild Pommes frites auftischt, dann wird sie sicher regionale Knollen wählen.
Ähnlich beunruhigend wie das entlarvende Bild zum Kartoffel-Skandal wirkte unlängst Dobribans Arbeit auf dem Worringer Platz in Düsseldorf. Dort ging es um gewaltige Gebiete im südspanischen Alméria, wo das Gemüse unter Plastikplanen wächst: Eingriffe in die Landschaft, deren Folgen kaum absehbar sind. Das ist der Preis für pausenlos Paprika und Cocktail-Tomaten in unseren Supermärkten. Dagegen führt Dobriban einen eigenen Erntekalender: »Das ganze Jahr über kann man unterschiedlichste Früchte ernten und verarbeiten, jede zu ihrer Zeit«, erklärt der Künstler, und beginnt zu schwärmen von schmackhaften Hopfensprossen, die man im März finde. Gefolgt von zartem Löwenzahn, wie er ab April auf saarländischen Wochenmärkten haufenweise angeboten werde.
Jetzt ist Dobriban im Thema: Er wettert gegen Erdbeeren im Dezember, Mammutkartoffeln aus Idaho und industriell verarbeitete Lebensmittel. Er plädiert für regionale Produkte, traditionelle Zubereitungsweisen und einen Speiseplan, der den Jahreszeiten gehorcht: »Wir sollten uns alles von der Natur diktieren lassen, dann erzielen wir die besten Ergebnisse.« Als ökologisch motivierter Geschmacksverfechter besetzt der Künstlerkoch lange schon eine Nische, in der er aktuell wahrscheinlich mehr Interesse und Zuspruch denn je findet.
Wie hat er als Künstler hierher gefunden? Dobribans Weg führte in den 1980er Jahren durch die Kunstakademien in München, Berlin und Düsseldorf nach Frankfurt an die Städelschule in Peter Kubelkas Klasse für »Film und Kochen als Kunstgattung«. Da hat es wohl angefangen: Während die Kommilitonen bei der Jahresausstellung ihre Bilder, Objekte, Installationen präsentierten, war Dobriban mit dem Servierwagen unterwegs und kredenzte selbstgebraute Suppe.
Aktuell steht ein Glas Wasser vor ihm auf dem Tisch. Dobriban nimmt einen Schluck, bevor er der Frage nachgeht, warum das Kochen auch Kunst sein könne. Kochen, das sei, mit seinem Lehrer Kubelka gesprochen, die grundlegendste kulturelle Handlung, die Menschen jemals ausgeführt haben. Die Zubereitung eines Gerichtes vergleicht Dobriban mit der Inszenierung eines Theaterstückes oder mit der Interpretation einer Partitur. Folgt man seinen Gedanken, so könnte man die Farben in einem Bild mit den Zutaten im Essen gleichsetzen.
Düsseldorfer Tradition: Kunst und Kochen
Joseph Beuys bietet sich an, um einen anderen Gedanken rund um die Kunst des Kochens ins Spiel zu bringen. Zumal in Düsseldorf, wo Beuys die Gäste in seiner Wohnküche so gerne mit Selbstgekochtem bewirtet hat. Und wo er das Kohlrabischälen vor laufender Fernsehkamera ganz offiziell zum gestalterischen Akt erklärte. Im Restaurant, das der Kollege Daniel Spoerri am Burgplatz betrieb, hat Beuys sogar persönlich am Herd gestanden, um Schweinshaxe mit gedämpfter Schlangengurke zuzubereiten. Auch hier könnte Dobriban theoretisch einhaken. Doch zeigt er wenig Interesse an der prominenten Düsseldorfer Kochkunst-Tradition – zu lang ist’s her.
Samen dagegen kann dem alten Beispiel einiges abgewinnen. Die Auflösung von Kunst in den Alltag hinein habe sie schon immer interessiert, bemerkt die Künstlerin und kommt zu sprechen auf ihre erste Ausstellung, die in einer Bottroper Pommesbude über die Bühne ging. Offenbar war ihr Fritteusen-Dunst lieber als Vernissage-Geplänkel, wie sie es vom Düsseldorfer Kunstpublikum kannte – mit dem Sektglas in der Hand und dem Rücken zur Kunst.
Doch zurück zur Tradition. Denn Samen möchte noch ein wenig weiter in die Vergangenheit schweifen. Zu Johanna Ey, die den Düsseldorfer Kunststudenten einst wie eine Mutter war. In Eys Bäckerei an der Ratinger Straße wurden die mittellosen jungen Leute mit Brot, Kuchen und Café verköstigt und beglichen ihre Schuld gern mit Bildern. Eys Laden war bald Künstlertreff, ein Ort, wo man diskutieren, Brötchen essen und Kunst kaufen konnte. Ebenfalls ein gutes Beispiel dafür, wie sich Kunst und Essensalltag nahekommen können. Ganz so, wie es Samen gefällt. Und noch etwas hebt sie hervor: Das Mütterliche, die Sorge der Bäckerei-Galerstin Ey.
Es weckt bei der Künstlerin Erinnerungen an die eigene alte Tante Lisa, die ihr ganzes Leben für die Familie gekocht und, wie es schien, an kaum etwas anderes gedacht habe. Jene besondere Rolle, die das Essen bis heute in Samens Alltag und in ihrer Kunst spielt, mag vielleicht auch mit dieser Frau zusammenhängen. »Tante Lisa schält Kartoffeln« heißt eine von Samens Arbeiten. Eine andere zeigt die Dame mit über 90 im Nachthemd – entrückt, fast durchscheinend wirkt sie, wie der weiße Rettich, den sie behutsam in beiden Händen hält. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie das eigenartige, oft ambivalente Miteinander von Mensch und Lebensmittel überraschende Assoziationen weckt und dabei diverse Deutungen eröffnet.
Nun ist es schon fast Mittag – die rechte Zeit, für eine Referenz ganz anderer Art: Auf dem Balkon steht ein Topf. Voll mit Linsensuppe, zubereitet nach dem Rezept der alten Tante Lisa.