TEXT: ANDREJ KLAHN
Wundern würde man sich nicht, wenn der Erzähler uns mit einem »Lieber Leser« beiseite nähme, um einen nur mal eben kurz wissen zu lassen, dass er, der Allwissende, diesen Kosmos im Innersten zusammenhält. Denn John Lanchester hat für seinen Roman »Kapital« noch einmal die traditionelle Werkzeugkiste der großen Romanciers hervorgekramt, um eine Welt en miniature zusammenzubasteln, in der sich das große Ganze widerspiegeln soll: 682 Seiten, unterteilt in 107 Kapitel, bewohnt von knapp zwei Dutzend Figuren, deren Wege sich über zwölf Monate hinweg auf nicht mal 100 Metern in der Londoner Pepys Road kreuzen.
Dabei schreiben wir nicht etwa irgendein Jahr Ende des 19. Jahrhunderts, in dem die nahezu identisch aussehenden Reihenhäuser der Pepys Road als Heime für die untere Mittelschicht gebaut wurden. Lanchester hebt Ende 2007 an, in einer Zeit, in der eine Immobilie dort lange schon siebenstellige Preise kostet und die Finanzkrise aus den USA nach Europa überschwappt. Lanchester handelt also von unserer Gegenwart und fährt dafür gesellschaftsromanesk noch mal ganz hinreißend groß auf. Zu sagen, dass das überraschend gut funktioniert, wäre schwer untertrieben. »Kapital« ist ein gigantischer Roman.
Zu Beginn ist in dieser Straße im Süden Londons noch alles in Ordnung: die 82-jährige Petunia Howe sitzt in ihrem renovierungsbedürftigen Haus und beobachtet durch die Spitzenvorhänge die Straße, in der sie geboren ist; sie wartet auf etwas. Genauso wie der Investmentbanker Roger Yount, der mit seiner verschwendungssüchtigen Frau Arabella und zwei verwöhnten Jungs schräg gegenüber wohnt und in seinem Büro in der City auszurechnen versucht, ob sein diesjähriger Bonus die Millionen-Grenze erreichen wird. Da hat Ahmed Kamal bereits ein paar Stunden in dem kleinen Kiosk am Ende der Pepys Road hinter sich, den er zusammen mit seinen beiden Brüdern betreibt; und Quentina Mkfesi, die unbeliebteste Frau in der Straße, hat die ersten Strafzettel an den Fensterscheiben der falsch parkenden Limousinen befestigt.
Das Leben, das die Anwohner der Pepys Road führen, könnte unterschiedlicher kaum sein. Gemeinsam ist den Besitzern aber die Abneigung, die ein Unbekannter ihnen entgegen zu bringen scheint. Allesamt finden sie in ihren Briefkästen regelmäßig Postkarten mit Fotos ihrer Häuser und dem Satz: »Wir wollen, was ihr habt«. Obwohl diese Nachrichten im Verlauf des Romans zunehmend bedrohlicher werden, zieht »Kapital« seine Spannung keineswegs aus kriminalistischen Versatzstücken. Viel mehr dienen die bedrohlichen Mitteilungen dazu, die Aufmerksamkeit auf etwas ganz Anderes zu lenken: auf die Frage nämlich, ob das, was hinter den Fassaden in der Pepys Road passiert, tatsächlich so beneidenswert ist. Am Ende werden viele der Menschen, die hier wohnen oder arbeiten, etwas verloren haben, Geld, eine Überzeugung, die Freiheit. Andere wiederum werden sterben, wieder andere sich verlieben und etwas Neues beginnen.
Weit ausholend und doch mit feinem Strich zeichnet Lanchester in »Kapital« nicht einfach nur Szenen aus dem Londoner Privatleben nach der Jahrtausendwende. Er bekommt, ganz unbescheiden, menschliches Schicksal als solches in den Blick, mal euphorisierend, mal erschütternd, mal anrührend. Man mag sich kaum vorstellen, was herausgekommen wäre, wenn ein weniger versierter Pathetiker als der 1962 in Hamburg geborene Brite etwa das Verhältnis zwischen einer Tochter und ihrer sterbenden Mutter in vereinzelten Gesten konzentriert hätte, all das Unausgesprochene, die Selbstvorwürfe und die Hilflosigkeit. Doch Lanchester, der den Grundton des Romans gekonnt zwischen Ironie und Einfühlsamkeit ausbalanciert, vermag in einer solchen Szene auch noch das Gefühl der Geborgenheit heraufzubeschwören, »das man hatte, wenn man als Kind auf der Rückbank des Autos hockte, während die Eltern vorne saßen«. Ins Rührselige gleitet er nicht ab, weder in dieser, noch in einer der anderen Szenen, in denen Lanchester jene Momente herauspräpariert, in denen Lebensentwürfe kippen. Die Pepys Road wird künftig ihren Ort auf der literarischen Landkarte unserer Zeit haben.
John Lanchester: »Kapital«, Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkell, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 682 S., 24,95 Euro
Lesung am 14. November 2011 im Literaturhaus Köln