Nach einer Stunde, genau in der Mitte des Stückes, kommen Igor Sousa und Paula Pau Hand in Hand und nackt aus dem Bühnenhintergrund an die Rampe. Das erste Menschenpaar, Adam und Eva – in einer modernen Version, in der Geschlecht und Gender offen gelassen sind. Abschluss und Krone eines göttlichen Schöpfungsaktes. In Ben J. Riepes Stück »Geschöpfe« bekommt dieses Bild einen zeitlich zentralen Platz. Zugleich aber wird es als ein Mythos unter vielen infrage gestellt.
Riepe und sein Team habe einiges geleistet, um diese Uraufführung überhaupt auf die Bühne des Düsseldorfer Tanzhaus NRW zu bringen (mehr zu den ungewöhnliche Proben lesen Sie hier). Hygiene- und Abstandsregeln sorgten dafür, dass einiges in der »Pandemie-Edition« anders als zunächst geplant abläuft – anzumerken ist es dem Stück aber zum Glück kaum. Allerdings bleibt zunächst durch den Lockdown offen, wann das Stück das nächste Mal gezeigt werden kann.
Dass Ben J. Riepes »Geschöpfe« in der Corona-Zeit entstanden ist, ist bestenfalls im Anfangsbild zu sehen. Jolinus Pape sortiert zahlreiche Pflanzen auf der Bühne. Sein Mund-Nasen-Schutz, ein weißer Schutzanzug und eine Laborbrille könnten an die Pandemie erinnern. Aber sind wir nicht viel eher in einem Gentechnik-Labor gelandet, in dem die Agrar-Zukunft entwickelt wird? Oder in einer Art moderner Arche Noah, in der die letzten Exemplare längst von der Klimakatastrophe hingeraffter Pflanzen gehegt werden? Dann legt der Tänzer jeden Schutz ab, bis er nackt ist. Wer wurde hier vor wem geschützt, von welcher Seite droht die Gefahr, wer setzt sich wem aus? Der Mensch der Natur oder umgekehrt? Pape berührt einen großen Bambus ganz zärtlich, als näherte er sich einem geliebten Menschen, lehnt sich leicht in die Zweige, wie um zu testen, ob sie ihn halten, versucht in der Pflanze zu versinken, mit ihr eins zu werden.
Ritual und Humor
Die thematische Spannbreite zwischen Gott und Mensch als antagonistischem Schöpferpaar, die Natur als willenlos, eigenwilliger dritter Pol dazwischen, ist gesetzt. Später wird Eray Gülay aus Teilen von Schaufensterpuppen einen grotesk verrenkten Golem zusammensetzen. Der Stolz des Schöpfers über sein Geschöpf steht ihm ins Gesicht geschrieben. In grenzenloser Liebe versucht er, dem künstlichen Wesen gleich zu werden, verbiegt seinen Körper, um sich dem kalten Kunststoffleib anzuschmiegen. Ein Roboterarm streichelt Gülay dabei ungelenk den Rücken.
Diese von Algorithmen und Motoren bewegten Körperteile, die die »RaumZeitPiraten« für »Geschöpfe« gebaut haben, bevölkern irgendwann den Bühnenboden, wo sie sich bewegen wie niedere Tiere, die der Instinkt zur blinden Suche nach Ernährung und Vermehrung treibt.
Ben J. Riepe hat diese zwei Stunden bis zum Überlaufen vollgepackt mit großen, manchmal schön verrätselten, immer enorm assoziationsstarken Bildern. Zusammengehalten wird die Inszenierung durch eine Grundstimmung, die aus mythologischer Dunkelheit und Ritual stammt. In diesem kraftvollen atmosphärischen Raum ist auch Humor möglich. Gleich zu Beginn spielt Paula Pau in einer Conférence seinen Akzent aus: »Wir haben auch eine Oboa, sehr giftig, sehr giftige O-boa«. Später singt er ein urkomisches Melodram über seinen Einkauf in einem Bio-Supermarkt und wird dann noch über die Vorzüge seiner Genderlosigkeit berichten. Und dann wieder Rituale: Leonie Türkes eigenartige Teezeremonie mit Fußwaschung, Eray Gülays Feuerbeschwörung oder der Tanz der Techno-Derwische (Kostüme: Ben j. Riepe und Margit Koch).
Kunst-Organismus
Riepes Stück, das der Untertitel als »transmediale Oper« ausweist, ist Tanztheater – konsequent ins Heute weiterentwickelt, beinahe neu erfunden. Überraschend ist es besonders in der engen Verzahnung der Tanztheater-Mittel mit der Musik. Der Komponist Gordon Kampe hat einen präzise auf das Bühnengeschehen abgestimmten Soundtrack entwickelt. Die Basis bildet eine elektronische Spur, die vorrangig aus elektroakustisch verfremdetem Material besteht. Sowohl Bühnensounds als auch Joseph Haydns Oratorium »Die Schöpfung« dienen als Ausgangsmaterial. Dazu komponiert sind Oboe und Saxofone. Shaghayegh Sharabi und Enrico Taubmann spielen sie live und werden auch immer wieder zum Teil des agierenden Ensembles.
Riepe denkt aber auch die Bewegungen der Tänzer*innen musikalisch, wenn sie in Wasserschalen atmen oder Igor Sousa mit der Sprühflasche Luft und Pflanzen befeuchtet. Dann wird »Geschöpfe« zu instrumentalem Theater aus dem Geiste eines Mauricio Kagel. Spätestens hier ist das Versprechen der Transmedialität vollends eingelöst. Mehr noch als in den Gesangseinlagen, wenn das gesamte Ensemble mehrstimmig – wunderschön – »In einem kühlen Grunde« singt, Waithera Schreyeck beschwörend »Eray sing me a song« psalmodiert oder Leonie Türke eine wahnwitzige Vokalartistik aus ihrem Körper hervorkrampft.
Im Formalen erzählt Ben J. Riepes »Geschöpfe« durch die wie selbstverständliche Emulsion der szenischen Mittel nicht zuletzt von der gestaltgebenden Kraft der Kunst, die aus dem Verstreuten, Einzelnen und Verschiedenen einen atmenden Organismus erschaffen kann. Einen, der anders als Frankensteins Monster auch tatsächlich lebensfähig ist.
Weitere Termine unter www.tanzhaus-nrw.de und www.benjriepe.com