Wie zeichnet man Schmerz? Im Jahr 2019 lädt Yvonne Buchheim Menschen in ihr Atelier in Kairo ein und fragt sie, wie es ihnen geht. Es entstehen Fotos von Männern und Frauen, auf deren Körpern sich kräftige Linien in roter und schwarzer Tusche legen und in Collagen verwandeln: Riesige Kringel, Organe, Körperteile auf Papier formen sich zu ausdrucksstarken Symbolen – für Schmerzen in den Augen, für Leiden in der Schwangerschaft oder Signale von Unwohlsein und Stress. In Interviews, Workshops und Lesungen hinterfragt Yvonne Buchheim den menschlichen Körper, unseren Umgang mit ihm und durch andere – etwa im öffentlichen Raum. Was die Künstlerin aber nicht ahnt: Sie fühlt sich eigentlich gesund, dabei ist sie selbst längst krank. Nun wenig später bekommt sie die Diagnose Brustkrebs.
Yvonne Buchheim beschließt, nach 20 Jahren im Ausland, zurück nach Deutschland zu gehen, um sich dort behandeln zu lassen. So beginnt ein Leidensweg schließlich bis zu ihrer Genesung – und eine Suche in Texten, Fotos, Installationen und Filmen. Denn das, was nun der Kerber Verlag herausgegeben hat, dokumentiert einerseits ein Ausstellungsprojekt. Andererseits hat Yvonne Buchheim für dieses Buch eine eigenständige Sammlung an feinfühligen, mitunter aber auch witzigen Selbstbefragungen, Essays, die sich mit der Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit des Körpers befassen, Fotos, Filmstills und Zeichnungen zusammengestellt. Kunst, um ihren Erfahrungen eine Form zu geben, wie sie heute in der Rückschau sagt.
Sie beginnt, sich mit den Positionen anderer Künstler*innen zu Krankheiten und Selbstfürsorge auseinanderzusetzen. »Kopfüberleben« stellt damit zunächst das Wissen unseres Körpers generell in den Mittelpunkt: Es hinterfragt, wie gut wir über uns (auch als gesunde Menschen) Bescheid wissen. Ob und wie wir unseren Körper überhaupt wahrnehmen, wenn er eben funktioniert – oder erst, sobald er es nicht mehr tut. Zugleich erzählt das Buch sehr persönlich von ihrer eigener Entfremdung und einem Nach-Hause-Kommen im doppelten Sinn: »Ich wusste plötzlich nicht mehr, ob und wie ich meinem Körper vertrauen kann«, beschreibt sie den Moment als ihr klar wurde, was Krebs durch sein anormales Zellwachstum bedeutet. Hinzu sei ihre nicht ganz freiwillige Rückkehr nach Deutschland gekommen. Und eine Therapie, deren Ausgang lange Zeit ungewiss war.
Wenn Yvonne Buchheim von ihrer Krankheit erzählt, dann rutschen immer wieder englische Begriffe in das Gespräch mit hinein. Die lange Zeit in England und Ägypten haben ihr einige wunderbare Begriffe in den Wortschatz gelegt. »Homesome« zum Beispiel, das man auf deutsch vielleicht als »heimelig« übersetzen könnte. Und das ein wichtiges Wort in sich trägt: »Heim«. Durch die Erkrankung verliert Yvonne Buchheim das einstige Vertrauen in ihren Körper und gewinnt ein neues hinzu. Entwickelt einen neuen Bezug zu ihrer alten Heimat Deutschland. Und zu sich selbst.
Yvonne Buchheim: Kopfüberleben – Life Turned Upside Down, Kerber Verlag, 96 Seiten, 30 Euro