Die Damen reisen Erster Klasse, wenngleich in beengten Verhältnissen. Die Überfahrt von Irland nach Kornwall in getäfelter Luxuskabine kündigt schon künftige (Raum)-Lösungen für Isolde an, die sogleich nach ihrem jähen Liebeserkennen mit dem Brautschleier aus einer Wolke weißen Tülls als Ehe-Opfer König Markes (Marcel Rosca) geschmückt wird. Später, wenn Marke und Melot das Paar überraschen, wird sie dem verschmähten Gatten den Ehering zurückgeben – eine bislang so nicht gesehene Geste der Aufrichtigkeit und tiefer gedachter Treue. Die kühne, makellos stimmliche Brillanz, darstellerische Souveränität und sinnliche Sprengkraft der Evelyn Herlitzius, die ihren Partner Jeffrey Dowd scheinbar mühelos überragt, ist zu gewaltig für die paar Quadratmeter, in die auch noch die Mannen Tristans – eine schnieke Champagner-Society – drängen und in der Kurwenal sich an Brangäne (hervorragend: Heiko Trinsinger und Ildiko Szönyi) keck vergreift. Der Verschlusskasten will schier bersten ob der gestauten Gefühle der im Innersten versehrten Frau und ihrer immens emotionalen Intensität. Im zweiten Aufzug von Wagners »Tristan und Isolde«, wie ihn Barrie Kosky am Aalto Theater inszeniert, gewinnt das komprimierte Konzept einer Raum-Verdichtung und mithin -Verdrängung nochmals an bestürzender Logik und hochgestimmter Gespanntheit. Das Liebespaar, das sich dem Zauberreich der Nacht überantwortet und dem Tag flucht, trifft sich in einem silberzarten Art-Déco-Kabinett, das gleich der anfänglichen Schiffskajüte im leeren schwarzen Kosmos (Bühne und Lichtdesign: Klaus Grünberg) schwebt. Dann aber kippt der Würfel und dreht sich um sich selbst, um jedes irdische Gesetz zu entkräften. Kopfüber in die Nacht der Liebe sinkt das Paar. Die Welt ist Nichts und diese intime Box alles – grandiose Übersetzung der Minnegrotte aus Gottfried von Straßburgs »Tristan«-Epos. Der von Stefan Soltesz am Pult der Essener Philharmoniker in durchsichtigster Klangschönheit dirigierte »Tristan« erzeugt so auch das Gegengift zu Bayreuth: zu Heiner Müllers auf abstrakte, absolute Distanz gebrachte Liebe und auf Marthalers matte Gefühlsregungen. Bei Barrie Kosky brennt es lichterloh. Kein Abstand, keine Ferne: die erste Umarmung wie in Wilson’scher Trance, der Liebesvollzug in drängender Nähe. Und der Tod im dritten Aufzug ein Panorama auf der Walstatt – der Raum nun bühnenweit geöffnet. Ein echtes Krippenspiel mit Hirten und Schafen bebildert ein längst abgestorbenes Idyll, wird dann abgeräumt und verschwindet im Dunkel wie auch selbst all die Menschen, ob Freund, ob Feind, ob lebend oder tot, die den Liebenden nur im Wege stünden. Allein Isolde bleibt, beleuchtet, nein, vielmehr erleuchtet in ihrem Schlussgesang, bevor sie sich erhebt, hinüber geht zu Tristans Leiche, ihren Mantel über ihn und sich selbst breitet und so noch im Sterben in voller Autonomie dem Tod keine Herrschaft einräumt. AWI
Kopfüber in die Nacht
01. Jan. 2007