TEXT: GUIDO FISCHER
Wenn sie wollte, könnte sie einen Abend lang einen einzigen Song singen. Und es wäre nie langweilig. Cassandra Wilson besitzt mehr als eine unverwechselbar traurig dunkle Alt-Stimme, mit der sie eine Geschichte in tausend Nuancen und Facetten erzählt. Blues, Jazz, Country, Folk – in dem Spektrum bewegt sich die Königin der Nacht. Auch wenn ihre Band leichte Rock-Rhythmen einstreut, ruht sie weiterhin in sich und beherrscht den Raum. Rein mit ihrem Gesang. Weshalb Konzerte von Cassandra Wilson auch anderes aussehen. Alles ist in abendliches Himmelslicht getaucht. Bis auf wenige Momente, in denen sie dem Publikum einen kurzen Blick gönnt, scheint sie sich in den Songs zu verlieren, die von Verlust, Verletzung und Sehnsüchten handeln. Wer von einem Jazzkonzert unterhaltsame zwei Stunden erwartet, ist bei der Amerikanerin fehl am Platze. Wer aber eine archaisch geerdete Jazzballaden-Welt erkunden will, lässt sich von der Ausnahmemusikerin führen.
Dass sie wie kaum eine andere Jazzsängerin ihrer Generation ein Gespür für die Urquellen der amerikanischen Musik besitzt, verdankt sich zunächst ihrer Herkunft. Wilson wurde in Mississippi – im Mutterland des Blues geboren. Bevor sie sich jedoch wieder ihrer Herkunft bewusst wurde und sich zu einer der charismatischsten Interpretinnen der Jazzgeschichte entwickelte, nahm sie zunächst einige Umwege. Mit 27 Jahren verließ sie ihre Heimatstadt Jackson / Mississippi, um in der Jazzmetropole New York Fuß zu fassen. Schnell bekam sie ihre Chance. Zunächst waren es die Sängerkollegin Abbey Lincoln und der Bassist Dave Holland, die von dem markant bluesgetränkten Talent fasziniert waren. Der nächste Schritt führte sie zum Saxophonisten Steve Coleman, der eine andere Jazz-Philosophie verkörperte. Fast zehn Jahre lang war sie die Stimme in Colemans Musikerkollektiv M-Base, das sich einem komplexen Stil aus Funk und Post-Bop verschrieben hatte.
Dann löste sie sich aus den Zusammenhängen. Und begeisterte 1993 mit ihrem ersten großen Album »Blue Light till Dawn«. Mit einer Viertelmillion verkaufter Alben gelang ein kommerzieller Erfolg, der vom Nachfolgeprojekt »New Moon Daughter« (650.000 Exemplare) noch getoppt wurde. Dieses Meisterwerk spiegelt Wilsons Lust und Neugier an verschiedensten Klangquellen exemplarisch. Zwischen eigenen Songs, die sie auch mit sanften Bossa Nova-Rhythmen und Großstadtgrooves auflädt, bietet sie in entspannten Arrangements Klassiker von Country- und Folk-Göttern wie Hank Williams und Neil Young. Aus einem Stück von U2 (»Love in Blindness«) macht sie eine unwiderstehlich magische Hymne, der zu jedem Roadmovie passen würde.
Gleich zu Beginn wagte sie sich an »Strange Fruit«, den beklemmend schönen Klagegesang, einst von Billie Holiday geprägt. Ihrem Vorbild Holiday erweist Cassandra Wilson mit ihrer Konzerttournee einmal mehr Reverenz, wobei in der fünfköpfigen Band mit Gitarrist Brandon Ross und Bassist Lonnie Plaxico zwei Musiker sitzen, die vor zwanzig Jahren bei den Aufnahmen von »New Moon Daughter« mitspielten. Beseelte Jazzgeschichte lässt sich also wiederholen.
Cassandra Wilson & Band: 26. November 2014 Tonhalle Düsseldorf; 28. November Konzerthaus Dortmund.