TEXT: MELANIE SUCHY
Eine Motte, die sich verfolgt fühlt, fliegt nicht schneller. Sie lässt sich fallen, taumelt durch die Luft, so dass die Fledermaus hinter ihr nicht peilt, wo ihre Beute gleich sein wird. Instabilität und Chaos als produktive nützliche Techniken, das sei ein faszinierender Gedanke, sagt Kate McIntosh. In einem Café hinterm Centre Pompidou in Paris erklärt sie die Entstehungsgeschichte ihres neuesten Bühnenstückes »Dark Matter«. Monatelang habe sie über aktuelle Themen der Physik recherchiert. Die Sache mit der Motte kam dann von ihrem Vater, samt der Information, dass es sogar schon Militärflugzeuge gibt, die nach diesem Prinzip funktionieren. Im Stück selber taucht die Motte nach einem stummen Prolog auf. Als eine Form des Denkens, das sich die Poesie dieses seltsamen Fluges zunutze macht.
»Dark Matter« – Nacht und Nachdenken. Schwärze, Leere, kleine Lichtlein der Erkenntnis. Dunkle Materie macht theoretisch einen Großteil des Universums aus, kann aber physikalisch noch nicht erklärt werden. Der Begriff selbst kommt im Stück nicht vor, aber das Suchen nach Antworten auf zu viele und zu große Fragen schon. Es geht also um die Wissenschaft. Und um Nacht-Phantasien und Chaos.
»Dance it through the night!« sagt die Conférencieuse des Abends, Kate McIntosh im schmetterlingshaft grün schillernden Kleid. Vorher probiert sie zusammen mit zwei Männern eilig mit Säcken, Seil, schwarzen Luftballons, Nebel und einer Holzplanke Balancen, Fälle und andere Bewegungen aus. Sie kippt und dreht sich gebückt mit eckig ausgefahrenen Armen. »Die Motte, an die ich denke, fliegt nicht. Sie gibt auf, um den Tod zu betrügen und fällt durch Dunkel in unsere Köpfe.« Der Kollege wedelt sinnlos mit einem Bündel Ballons. »Wie denken wir denn, wenn Denken kein Chaos ist?« fragt Kate McIntosh. Dann: »Ich habe den Faden verloren.« Die beiden Männer in den uneleganten, grauen Anzügen stellt sie als ihr »Bewusstsein« und ihr »Unbewusstes« vor und wundert sich, dass trotz dieser sauberen Trennung so viel Unordnung herrscht.
Mit derart vereinfachenden Vorstellungen verleiht Kate McIntosh ihrer charmanten Inszenierung kindliche Direktheit und weise Naivität. Als Wissen um das Nichtwissen hat das mit Kunst, Wissenschaft und Leben mehr zu tun, als deren Vertreter zugeben würden.
Mit der Hektik eines Lehrers, dem klar zu sein scheint, dass eh alles klar ist, aber nichts wirklich sinnvoll, präsentiert ein Assistent auf einem Experimentiertisch die Fakten: das Universum! Er sagt »space« zur Kanne mit Wasser, »time« zum Glas und gießt den Raum bis zum Überlaufen in die Zeit. »Mind« ist der Trichter auf einem anderen Glas, das Tüchlein »consciousness«, und »memory« sagt der Wissenschaftlerdarsteller, als das Bewusstsein vergossenes Wasser aufwischt. »The truth!« sind zwei Gläser mit hellen Flüssigkeiten, die vermischt neue Farben ergeben. Der Zuschauer erfreut sich an den überzeugend einfachen, idiotischen Denkmodellen. So ist das.
»Nur drei Prozent dessen, was ich bei der Recherche interessant fand, konnte ich ins Stück quetschen«, bedauert Kate McIntosh. Die Suche nach absoluter Dunkelheit passte noch hinein. Der Assistent namens »Bewusstsein« hat diese besondere Schwärze in einer Tüte dabei – wie die Bürger Schildas damals das Sonnenlicht in Säcken. Es habe sie schon immer interessiert, »große Theorien auf dem Küchentisch zu testen oder zuzuschauen, wie ein aufgeregter Wissenschaftler im Fernsehstudio Sachen demonstriert.« Das erinnere sie an frühe Entertainment-Formen, sagt McIntosh.
Mit »Dark Matter« will sie nun die verrauchte Atmosphäre eines »late night theatre« mit Wissenschaft kombinieren. Dafür braucht es eine Hostess mit zwei Assistenten. Die Zahl drei sei zudem wichtig in der Physik. »Jedes System mit zwei Variablen wird ziemlich stabil bleiben, mit drei unbestimmten Variablen tendiert es zum Chaos«, erklärt Kate McIntosh. »In der Show sind die beiden die Gedanken in meinem Kopf. Mal sind sie hilfreich, mal nicht, mal gehen sie eigene Wege, mal haben wir Kontrolle.« Diese Gedanken streunen über die Bühne, stehen rum, beugen plötzlich im Takt die Knie.
»Dark Matter« erinnert an die Ästhetik der Performancegruppe Forced Entertainment. Kate McIntosh erklärt das so: Viele britische Inszenierungen basierten auf der Idee einer Show. »Es ist diese UK-Art Sensibilität für frühere Theater- und Entertainmentstile.« Schon ihr erstes Stück »All Natural« (2004) hatte diese direkte Ansprache. »Ein Las Vegas Showgirl, das wochenlang im Wald verloren war, erinnert sich nicht, wie man sich in sozialen Umständen verhält. Sie sucht.« Unter den Zuschauern war damals auch der Forced Entertainment-Kopf Tim Etchells. Er begeisterte sich in seinem Blog über das »Showgirl mit der Körpersprache eines in die Falle geratenen Reptils, das im fluoreszierendem Licht blinzelt. Ihr Sprechen ist ein unruhiges Tönen unterschiedlicher Personas. Sie wirken, als bewegten sie sich durch – statt in – ihrem Körper.« Beim Solo »Loose Promise« (2007) bewegte Kate McIntosh eher verknickte Geschichten über die karg möblierte Bühne. Unter den Autoren dieser Texte war auch Etchells. Bei »Dark Matter« nun war er ihr Mentor und half mit Fragen, den Ablauf des Stücks zu strukturieren. Eine Geschichte darin ist auch von ihm: Eines Nachts gehen die Gedanken eines Mannes auf Sauftour in die Stadt und kriechen zu ihm ins Bett zurück, mit dem Hauch eines fremden Parfums um sich. »Die Überwältigung, dieses Schwindelgefühl, das man von zu vielen Informationen und Möglichkeiten bekommt, sei eine weitere Grundidee in »Dark Matter« gewesen, sagt Kate McInosh.
Einen weiten Weg hat sie als Künstlerin schon zurückgelegt, nicht nur von Neuseeland, wo sie aufwuchs als Kind zweier Molekularbiologen. Ballettunterricht, Tanzstudium, mit 22 das erste Engagement bei Meryl Tankards Tanztheater, dann in anderen Kompanien. Mit 30 entschied sie, ihr eigenes Ding zu machen. »Das erste Solo war komplett gesprochen. Toll. Wie ein Kind mit einem neuem Spielzeug.« Ihre Stimme hat einen überraschend tiefen Grundton.
Kate McIntosh zog 2000 nach Brüssel und ist wie etliche Tanzkünstler fasziniert von Bildender Kunst. Nicht nur »Der Lauf der Dinge« von Fischli+Weiss stand Pate für »Dark Matter«. Sie arbeite gern außerhalb der konventionellen Bühne, ohne die »forcierte Interaktion«, sagt McIntosh. So auch in der Installation »deplaced«, die sie mit Eva Meyer-Keller 2008 schuf. Dabei umstellen den Betrachter acht Monitore mit Fotos: ein über eine Pusteblume gestülptes Glas, Creme oder Pudding in den Spalten zwischen Mauersteinen und Gehwegplatten, unter den Teppich gestopfte Dinge, Zigaretten in Schlüssellöchern. »Einige Aktionen sind schön, andere gemein. Es geht um Neugier, Geheimnis, Besessenheit«, sagt Kate McIntosh. Vielleicht verändert das den Blick auf die Welt und diese gleich mit.
Am 12. & 13. Mai 2010 bei PACT Zollverein