Papierschnipsel fliegen herum, und auf dem Tisch steht neben langen Lineals und stummelkurz gespitzten Bleistiften die große gelbe Uhu-Flasche. Kein Computer. Denn Marcel Odenbach ist von jeher ein Bastler und bleibt lieber bei der Handarbeit. Im großen Kölner Atelier teilt er sie mit einem einzigen Assistenten. Es waren einmal mehr, vier oder fünf Helfer sogar. Doch die hat Odenbach nach Hause geschickt: »Ich wollte keine Fabrik, hatte keine Lust, jeden Morgen herzukommen, um meine Angestellten zu beschäftigen.« Der Künstler beschäftigt sich lieber selbst, exzessiv. »Hyperaktiv« sei er und könne sich durch die Arbeit settlen, wie er sagt.
Wer sich Odenbachs große Collagen aus der Nähe ansieht, mag ermessen, was an ruhiger Bastelei dahintersteckt. Denn die fotorealistischen Motive sind aus unzähligen bunt eingefärbten Foto- oder Zeitungfetzen zusammengesetzt. Winzige Bilder im Bild, die, zumal in der Kombination, neue Bedeutungsebenen öffnen. Odenbach hat seinen Spaß daran, eins neben das andere zu kleben – spontan, oft mit ironischem Hintersinn und immer ungeplant. Alles andere sei ihm zu abstrakt. Was sich aus der Ferne etwa als harmloses Dschungel-Dickicht darstellt, wird im Zoom zum Panorama der afrikanischen Kolonialgeschichte. Die grünen Palmwedel erzählen von Raub, Ausbeutung, Unterdrückung… Unzählige Anspielungen tun sich auf.
Eine Reihe ähnlich vielschichtiger Großformate hat der Künstler zuletzt in den zurückgezogenen Corona-Monaten geschaffen. Ein bisschen Lockdown-Stimmung klingt an in jener kleinen Kammer in Sils Maria, wo Friedrich Nietzsche in den 1880er Jahren seine Hauptwerke schuf. Odenbachs Collage-Porträt dieses besonderen Ortes steckt voller Geschichten – an Wänden und auf Möbeln spiegeln sich Nietzsches Biografie, seine Ideen und ihr Nachleben, auch im Nationalsozialismus. Neben Nietzsche hinterlassen prominente Besucher ihre Spuren in Odenbachs Bild. Hermann Hesse etwa versteckt sich im Teppichmuster. Und in einer Partitur auf dem Waschgeschirr klingt eine Wagner-Melodie an.
Auch diese neue Collage reist nach Düsseldorf, wo sie demnächst im K21 zu sehen sein wird. Die große Überblicksschau dort will nicht zuletzt Odenbachs Image korrigieren. Obwohl die Arbeit auf und mit Papier von Anfang an sein Werk begleitet, feiert man den Kölner Künstler immer noch zuerst als großen Videopionier.
Vielleicht trägt er selbst ein bisschen Schuld an der eingeschränkten Rezeption. Dieser Gedanke könnte einem kommen, wenn Odenbach amüsiert über seinen Auftritt 1977 bei der Documenta 6 erzählt. Wie er seine Zeichnungen per Stempel für »abgelegt« erklärte und vor dem Fridericianum freigiebig ans Publikum verschenkte, um sich freizumachen für den Neuanfang mit der Videokamera. »Ich wollte nie mehr etwas machen, das kommerziell nutzbar ist.«
Damals war Odenbach 24 und noch Student. Nicht etwa an der Kunstakademie – die war ihm zu spießig – sondern an der Technischen Hochschule in Aachen. Dort hatte er sich eingeschrieben für Architektur und erste Erfahrungen mit der Videokamera gemacht, die in seinem Fach schon früh als Dokumentationsmedium genutzt wurde.
Odenbach fing Feuer. Mit der neuen Technik ist er groß geworden als Künstler. Und fühlte sich dabei in der aufkommenden Videokunst-Szene wie in einer großen Familie. Ständig sei man eingeladen worden zu Festivals und Ausstellungen. Doch mit dem in Kassel verkündeten Verzicht aufs Zeichnen und markgängige Kunst nahm er es bald nicht mehr so genau. Zunächst waren es Konzepte für die Videos, Drehbüchern ähnlich, die Odenbach mit immer größeren Zeichnungen anreicherte. Dann kam er zu kleineren Klebebildern in Schwarzweiß, und seit den 90ern schließlich schafft er seine großen, bunten, bildmächtigen Collagen.
Das K21 wird von jedem etwas zeigen und daneben eine Reihe wichtiger Videoarbeiten: »In stillen Teichen lauern Krokodile« etwa, so nennt Odenbach seine epische Schilderung der Landschaft Ruandas nach dem Genozid. Oder sein Doppelprojektion namens »Tropenkoller«, die Archivmaterial aus der Zeit des Kolonialismus mit Bildern kombiniert, die das Fortbestehen kolonialer Strukturen im heutigen Togo belegen.
Der Auftritt in Düsseldorf ist Odenbachs größter, aber nicht der einzige. Krefeld, München, Bonn, überall ist er zu Gast. Auch in Köln – als Träger des wichtigen Wolfgang-Hahn-Preises stellt Odenbach ab November im Museum Ludwig erstmals seine über hundert »Schnittvorlagen« aus. Ideenspeicher und Materialsammlungen zugleich sind sie und unerlässlich als Vorarbeiten für die großen Bilder. Auf DIN A 3-Bögen stellt Odenbach hier gefundene oder fotografierten Bilder zusammen, die, kopiert, mit Tinte eingefärbt und dann zerschnitten, in den Collagen weiterverarbeitet werden. Für ihn sei es wie eine Farbpalette.
Im Rahmen des Hahn-Preises wurde das Konvolut für das Museum Ludwig erworben. 100.000 Euro bekommt Odenbach für die bisherigen und alle »Schnittvorlagen«, die er noch zusammenkleben wird. Der Deal falle ihm nicht leicht, gesteht der Künstler. Immerhin seien es die Herzstücke seines Schaffens. Deshalb werden sie nach der Schau auch zurück ins Atelier gehen und erst nach dem Tod des Künstlers endgültig ins Ludwig wandern.
Odenbach selbst plant nach all den Ehrungen und Ausstellungen erst einmal eine längere Pause – auf dem Lande in der italienischen Maremma, wo er sich ein Haus gekauft hat. Danach geht der Rummel dann wohl weiter. Dass der Künstler mit Ende sechzig so gefragt ist wie wahrscheinlich nie zuvor in seiner Karriere, ist wohl kein Zufall. Verfolgt er doch seit Jahrzehnten beharrlich Themen, die gerade heute wieder im Fokus stehen. Rassismus, Kolonialismus, Ausländerfeindlichkeit, die Verdrängung der NS-Zeit und das Aufleben des Antisemitismus…
Odenbach kommt auf seine Familie zu sprechen, auf die Verwandten im Kongo, auf den jüdischen Teil der Familie in den USA. Auch auf seine eigenen Erfahrungen als Künstler und Lehrer in Ghana. »Ich habe das Glück, dass die Familie und meine Geschichte mich für so viele Themen offen macht«. Der persönliche Zugang ist wesentlich ihn. Dass seine Inhalte den Zeitgeist treffen, sieht er dabei nicht unbedingt positiv. Vieles werde gegenwärtig vereinfacht, über einen Kamm geschoren. Und die Modethemen von heute könnten morgen schon vergessen sein. Odenbach erweist sich dagegen als Bewahrer.
Er hebt auf, was andere längst weggeschmissen hätten. Auch den Prospekt zur ersten Videokamera, die er 1977 erstand. Kürzlich ist ihm das Dokument in die Finger gekommen und rückt nun ins Zentrum einer neuen Arbeit, die noch unfertig auf dem Atelier-Boden liegt. Spannend findet Odenbach, dass das neue Medium Video zunächst als reines Überwachungsinstrument auf den Markt kam – und heftig diskutiert wurde. Viele hätten sich gewehrt gegen solche Kameras, die heute selbstverständlich überall alles filmten.
Im Digitalen hat das Überwachungsthema neue Dimensionen angenommen. Mit einer Spähsoftware etwa, die jedes Handy knacken kann. Odenbach grinst: Was ihn zur Zeit am meisten reize, sei zurückzublicken und zu sagen: »Das hatten wir doch alles schon einmal.«
»Marcel Odenbach. So oder so«, Kunstsammlung NRW, K21, 9. Oktober bis 9. Januar 2022, www.kunstsammlung.de
»Marcel Odenbach. Wolfgang-Hahn-Preis 2021«, Museum Ludwig, Köln, 17. November bis 20. Februar 2022, www.museum-ludwig.de
»Marcel Odenbach – plötzlich konnte eins wie das andere sein«, Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld, bis 24. Oktober, www.kunstmuseenkrefeld.de