Das »und« zwischen Orpheus und Eurydike ist hinfällig. Alles passiert nur in der Imagination des Mannes. Völlig aus dem Leben geschmissen durch den plötzlichen Tod seiner Bezugsperson, phantasiert sich der Proto-Musiker seine Begegnung mit dem mitleidigen Amor, seinen Gang in die Unterwelt, die Wiederbegegnung mit Eurydike im Elysium und deren missglückte Rettung nur zusammen.
Das ist der Kerngedanke von Paul-Georg Dittrichs Inszenierung. Ein oft gesehener Kniff des Regietheaters. Alles nur die Ideen eines einsamen Menschen. In Essen wird dieser Einfall wissenschaftlich abgesichert. Eine zentrale Position in der Inszenierung nehmen Ausschnitte aus Videointerviews mit Essener Neurolog*innen ein, die das Publikum über Störungen nach einem Schlaganfall, psychische Prozesse im Koma und das Locked-In-Syndrom informieren. Man könnte es nun ärgerlich finden, dass diese Videoschnipsel ständig in dem musikalischen Fluss von Glucks Komposition reingrätschen. Viel nervtötender aber ist, dass sie das Regiekonzept übererklären, als wären die Zuschauer*innen begriffsstutzig. Ist es nicht deutlich genug als Zeichen, dass Orfeo und Euridice das gleiche Kleid tragen? Reicht es nicht, dass Orfeo die ersten Zeilen von Amor selbst mit kindlicher Quäkstimme singt?
Zinkeimer und Monoblock
Den Anfang des Abends macht erstmal die große Technikshow. Wenn sich der eiserne Vorhang dekorativ öffnet, erhellt ein gleißender Lichtschein mehr und mehr den Zuschauerraum, bis alle geblendet sind von zwei mächtigen Scheinwerfern. Die flackern kurz bei Orfeos ersten Leidensrufen. Wenn sie endlich wieder in den Bühnenhimmel entfleucht sind, blicken wir in den leeren Bühnenschlund. Dittrich, der auch für die Ausstattung verantwortlich ist, präsentiert im schwarzen Loch eine kleine Zusammenstellung von Utensilien mit penetranter Zeichenhaftigkeit. Windschief hängt ein Prospekt mit Wolkenumrissen da, ein paar Zinkeimer stehen herum. Auch ein Scheinwerfer muss natürlich auf dem Bühnenboden stehen, um das Theater als Gedankenraum zu verdeutlichen.
Und dann ist da das ewige Signe des ganz fürchterlich ambitionierten Musiktheaters: Der Monoblock! Jener billige weiße Plastikgartenstuhl, der auf Bühnen so gern herumgeschmissen und zertrümmert wird. Hier symbolisiert er die Leerstelle, die der Tod der Geliebten im Leben Orfeos hinterlassen hat. Der Stuhl wird sehnsüchtig angesungen und auch ein bisschen hinter sich hergeschleift, wie man das halt mit Geliebten und Teddybären tut. Damit wir wissen, wer da so heftig vermisst wird, schmiert Orfeo auch gleich noch ein »E« mit Farbe aus einem der Zinkeimer in die Wolken.
Derweil fahren mal ganze Scheinwerfer-Batterien aus dem Schnürboden herunter und die Scanner demonstrieren, wie wunderbar sie sich in alle Richtungen drehen können, dann dürfen sie wieder hochfahren. Stattdessen kommt eine Kiste runter, aus der irgendein schwarzes Krümelzeug auf die Bühne rieselt. Orfeo im postnuklearen Ascheregen? Jetzt fährt Amor aus dem Boden herauf. Die kalkweiß geschminkte Statistin Leonie Hauffe lipsynct sehr hübsch, während die Partie von Christina Clark aus der Gasse gesungen wird. Das klingt, als säße sie in einem Karton.
Die Unterwelt fährt – Überraschung – aus dem Bühnenboden hoch und ist – tatsächlich überraschend – sehr weiß. Hier werden Wasserballett-Videos von Vincent Stefan aus dem Essener Schwimmzentrum projiziert. Larissa Machado und Dale Rhodes aus der Ballett-Compagnie schwimmen zwischen versenkten Plastikblumen und einem Krankenhausbett herum.
Untergang in der Augsburger Puppenkiste
Den Weg zurück aus der Unterwelt bewerkstelligt Orfeo auf einem Laufband, wie man es aus Fitness-Studios kennt. So sinnfällig diese Idee ist, stammt sie leider aus Jernej Lorencis Inszenierung von »Orfeo ed Euridice« an der Oper Ljubljana. Merkwürdig schlüssig erscheint das im Rückblick auf einigen Schattenspielen im ersten Akt, in denen ein dreigipfeliges Bergpanorama vorkam, das verwirrend nah am slowenischen Nationalberg Triglav war, und ein Drache, der dem Wappentier Ljubljanas zum Verwechseln ähnlich sah. Alles wohl nur Zufall. Am Schluss muss Euridice unter einer Plastikfolie verschwinden, die von einem Gebläse schön zum Wogen gebracht wird. Das Meer aus der Augsburger Puppenkiste lässt grüßen. Es ist zum Verzweifeln.
Bettina Ranch als Orfeo und Giulia Montanari als Euridice singen einen unangreifbar schönen Gluck. Die Essener Philharmoniker spielen unter Tomáš Netopil lange zu glatt und klangschön. Etwas Schroffheit würde dem dramatischen Gehalt der Partitur zugute kommen. Ganz am Ende, wenn das Orchester aus dem Graben hochgefahren wird, ist sie dann doch noch da.
Zum Schlussapplaus kommt Dittrich mit vor die Brust geschnalltem Säugling. Es kann nur gemutmaßt werden, warum. Wahrscheinlich soll es sehr unkonventionell wirken. Die Inszenierung wäre wohl auch gerne eine Provokation gewesen. Es ist dann aber doch nur eine kleine Bastelei aus den Versatzstücken, die das Handbuch des Regietheaters im Anfängerkapitel aufzählt. Der Musiktheatergott bewahre uns davor, dass wir im Angesicht solcher Aussetzer zu Werktreue-Apologeten werden.
18., 25. und 29. Oktober, 1., 7. und 8. November, 13. und 27. Dezember, Aalto Theater Essen, www.theater-essen.de